ZEITREISE INS MITTELALTER
Würde ich also in diesem Sommer nicht irgendwo in Europa, sondern – aus uns allen bekannten Gründen – Urlaub in Deutschland machen, und nicht im Schwarzwald, sondern im Mittelalter und dort um ein „bescheidenes“ Frühstück bitten, würden mich die Wirtsleute wohl nicht verstehen. Mein Arbeitgeber wohlmöglich auch nicht, wenn ich mein Urlaubsgesuch eingereicht hätte. „urloup“ bedeutete im Mittelhochdeutschen nämlich auch „Abschied“. Und ich hatte ja durchaus vor, nach den Ferien wieder zur Arbeit zu erscheinen.
LIEGEN ODER LÜGEN?
Häufig zitierte Beispiele sind das englische Wort „billion“, das eben auf Deutsch nicht „Billion“ sondern „Milliarde“ meint. Oder das englische Wort „corn“, das nicht „Korn“ sondern „Mais“ bedeutet. Das französische Wort „apparat“ ist gleichbedeutend mit „Prunk“ und „Glanz“. Das, was im Deutschen mit „Apparat“ bezeichnet wird, heißt auf Französisch „appareil“. Und das niederländische Wort „liegen“ bedeutet auf Deutsch nicht die Tätigkeit, also etwa im Strandkorb die Beine von sich zu strecken. Nein: Das niederländische „liegen“ heißt auf Deutsch „lügen“.
BABYLON UND DIE FOLGEN
Erstens der Satz meiner Tochter: „Englisch ist auf Spanisch deutsch.“
Zweitens: Die babylonische Sprachverwirrung.
Drittens: Die Frage, ob „falsche Freunde“ eigentlich eine gute Begriffswahl für dieses Phänomen ist.
Denn, mal so gefragt: Gibt es etwas unschöneres als „falsche Freunde“? Die sind doch etwas, von dem wir alle verschont bleiben sollen und wollen. Aber: Wollen und sollen wir von der Sprache verschont bleiben?
Mir scheint in den „falschen Freunden“ das gleiche Verständnis von Sprache zu stecken wie in der Geschichte der babylonischen Sprachverwirrung aus der Bibel. Weil die Menschen den größenwahnsinnigen Plan hatten, einen Turm zu bauen, der bis in den Himmel und damit bis zu Gott reicht, wurden sie von Gott bestraft. Die Strafe bestand darin, dass die Menschen nicht mehr die gleiche Sprache sprachen, sondern jedes Volk seine eigene. Die Sprachen waren von Gott „verwirrt“ worden. Und seitdem haftet – zumindest im westlichen Kulturkreis – einem sprachlichen Ereignis, dass nicht von sofortigem Verstehen begleitet ist, ein negativer Beigeschmack an. Wie eben auch den „falschen Freunden“.
BLEIBT IN DER FAMILIE
Denn: Beim Sprechen geht es nicht um „verstehen“, „nicht verstehen“ oder „missverstehen“. Es kommt erst einmal darauf an, dass wir miteinander sprechen. Es geht nicht um „richtig“ und „falsch“, sondern um Kommunikation. Und wenn wir uns einmal missverstehen, ist das ein Geschenk, das darauf hinweist, wie reich die Sprache ist, dass sie sogar so etwas wie Missverständnisse ermöglicht. Weil wir als Menschen einander eben nicht „falsche Freunde“ sind, sondern alte Verwandte.
SPRECHSTUNDE – DIE SPRACHKOLUMNE