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Das unerwünschte Wiederaufleben der Rassenlehre
Ihre Verteidiger behaupten, für unliebsame Wahrheiten einzustehen. Aber die Rassenlehre ist heute immer noch so falsch wie früher.
Von Gavin Evans
Eine der bizarrsten Ironien unserer Zeit ist, dass ein Korpus gründlich widerlegter „Wissenschaft" von Menschen wiederbelebt wird, die behaupten, die Wahrheit gegen eine wachsende Flut von Unwissenheit zu verteidigen. Die Idee, dass bestimmte Rassen von Natur aus intelligenter sind als andere, wird von einer kleinen Gruppe von Anthropologen, IQ-Forschern, Psychologen und selbsternannter Experten propagiert, die sich als edle Dissidenten präsentieren, die für unbequeme Tatsachen geradestehen. Über eine überraschende Mischung aus Nischen- und etablierten Medien erreichen diese Ideen ein neues Publikum, das sie als Beweis für die Überlegenheit bestimmter „Rassen" betrachtet.
Die Behauptung, dass es eine Verbindung zwischen Rasse und Intelligenz gibt, ist das grundlegende Prinzip dessen, was als „Rassentheorie“ oder „Rassenlehre“ bezeichnet wird, oder „wissenschaftlicher Rassismus“. Rassentheoretiker behaupten, es gebe evolutionäre Grundlagen für unterschiedliche Phänomene – wie Lebenserwartung, Bildungsniveau, Wohlstand und Inhaftierungsraten – bei verschiedenen „Rassen“. Insbesondere argumentieren viele von ihnen, dass Schwarze schlechter abschnitten als Weiße, weil sie von Natur aus weniger intelligent seien.
Obwohl die Rassenlehre in der wissenschaftlichen Forschung immer wieder widerlegt wurde, hat sie in den letzten Jahren ein Comeback erlebt. Viele der heute eifrigsten Fürsprecher der Rassenlehre sind Stars der „Alternativen Rechten“, die die Pseudowissenschaft gerne dazu benutzen, ethno-nationalistische Politik intellektuell zu rechtfertigen. Wer glaubt, dass arme Menschen arm sind, weil sie von Natur aus weniger intelligent sind, kommt leicht zu dem Schluss, dass liberale Hilfsmaßnahmen wie etwa Quotenregelungen für Minderheiten oder Entwicklungshilfe zum Scheitern verurteilt sind.
Zahlreiche Beispiele aus jüngster Zeit zeigen, wie Anhänger des politisch rechten Lagers die Trommel für die Rassenlehre rühren. Im Juli 2016 zum Beispiel schrieb Steve Bannon, damals Chef der US-amerikanischen Nachrichten- und Meinungswebsite Breitbart und später Chefstratege von Donald Trump, einen Artikel, in dem er andeutete, dass einige Schwarze, die von der Polizei erschossen worden waren, es möglicherweise verdient hätten. „Schließlich gibt es auf dieser Welt Menschen, die von Natur aus aggressiv und gewalttätig sind“, schrieb Bannon und beschwor damit eine der hässlichsten Behauptungen des wissenschaftlichen Rassismus: dass Schwarze eher eine genetische Veranlagung für Gewalt hätten als andere.
Einer der Menschen, die hinter der Wiederbelebung der Rassenlehre stehen, war vor nicht allzu langer Zeit eine Person des Mainstreams. Im Jahr 2014 schrieb Nicholas Wade, ein ehemaliger Wissenschaftsjournalist der New York Times, das wohl toxischste Buch über Rassenlehre, das in den letzten 20 Jahren erschienen ist. In A Troublesome Inheritance wiederholte er drei Plattitüden der Rassenlehre: dass der Begriff „Rasse“ fundamentalen biologischen Unterschieden zwischen Gruppen von Menschen entspreche; dass sich das menschliche Gehirn bei verschiedenen Rassen unterschiedlich entwickelt habe; und dass dies durch unterschiedliche rassebedingte Durchschnittswerte von IQ-Testergebnissen belegt werde.
Wades Buch veranlasste 139 der weltweit führenden Populationsgenetiker und Evolutionstheoretiker, einen Brief in der New York Times zu unterzeichnen, in dem sie Wade beschuldigten, Forschungsmaterial aus ihren Fachgebieten zweckentfremdet zu haben. Mehrere Wissenschaftler formulierten ihre Kritik auch im Detail. Der Genetiker Jerry Coyne von der Universität Chicago tat das Buch als „einfach nur schlechte Wissenschaft“ ab. Aber es überrascht vielleicht nicht, dass einige Rechte Wades Ideen aufgegriffen und ihn als Ausbund intellektueller Ehrlichkeit präsentierten, der nicht von Experten, sondern von politischer Korrektheit zum Schweigen gebracht worden war.
„Der Angriff auf mein Buch war rein politisch motiviert“, sagte Wade einen Monat nach der Wahl von Trump zu Stefan Molyneux, einem der populärsten Befürworter des neuen wissenschaftlichen Rassismus der Alternativen Rechten, in dessen YouTube-Show, deren Episoden in der Vergangenheit zig Millionen Mal angeklickt worden sind. „Er hatte keinerlei wissenschaftliche Grundlage“, fuhr Wade fort, „und hat nur die lächerlichere Seite dieser Herdenmentalität gezeigt".
Ebenfalls zu Gast bei Molyneux war kürzlich der Politikwissenschaftler Charles Murray, Mitverfasser von The Bell Curve. In diesem Buch wird die Position vertreten, dass arme Menschen, und insbesondere arme Schwarze, von Natur aus weniger intelligent seien als Weiße oder Asiaten. Als es 1994 auf den Markt kam, wurde es zu einem Bestseller der New York Times, aber in den darauffolgenden Jahren wurde es von akademischen Kritikern komplett zerpflückt.
Häufig Zielscheibe von Protesten an Hochschulen ist Murray zu einem Aushängeschild für Konservative geworden, die versuchen Progressive als unreflektierte Heuchler darzustellen, die die Prinzipien des offenen Diskurses, die einer liberalen Gesellschaft zugrunde liegen, aufgegeben haben. Diese Logik hat einige Persönlichkeiten aus dem kulturellen Mainstream dazu veranlasst, Murray als eine Ikone der wissenschaftlichen Debatte oder zumindest als ein Symbol ihrer eigenen Offenheit zu hätscheln für die Möglichkeit, dass die Wahrheit manchmal unbequem sein kann. Im vergangenen April erschien Murray im Podcast des populären Sachbuchautors Sam Harris. Murray nutzte die Gelegenheit, um seinen liberalen akademischen Kritikern zu unterstellen, sie hätten „ohne den geringsten Anflug von Schuldgefühlen gelogen, weil, so denke ich, sie wohl meinten, sie täten das Werk Gottes“.(Die Podcast-Episode trug den Titel „Verbotenes Wissen“.)
Die Behauptung, dass es eine Verbindung zwischen Rasse und Intelligenz gibt, ist das grundlegende Prinzip dessen, was als „Rassentheorie“ oder „Rassenlehre“ bezeichnet wird, oder „wissenschaftlicher Rassismus“.
Die Rassenlehre hat in der Vergangenheit nicht nur den politischen Diskurs, sondern auch direkt staatliche Maßnahmen geprägt. In dem Jahr nach Erscheinen von The Bell Curve und im Vorfeld eines republikanischen Kongresses, der die Leistungen für ärmere Amerikaner drastisch kürzen wollte, trat Murray vor einem Senatsausschuss für Sozialhilfereformen als Experte auf. Vor nicht allzu langer Zeit wurde Murray von dem Kongressabgeordneten Paul Ryan, der die jüngsten Steuersenkungen der Republikaner für die Reichen mit vorangetrieben hat, als Armutsexperte gehandelt.
Jetzt wo die Rassenlehre wieder in den Mainstream-Diskurs zurücksickert, ist sie durch Gestalten wie Bannon bis in die oberen Ränge der US-Regierung getragen geworden. Und auch das Vereinigte Königreich blieb von dieser Wiederbelebung nicht verschont: Die Londoner Studentenzeitung Student berichtete kürzlich über eine halb geheime Konferenz zum Thema Intelligenz und Genetik, die in den letzten drei Jahren ohne Wissen der Universitätsleitung regelmäßig am University College of London abgehalten worden ist. Einer der Teilnehmer war der 88-jährige Evolutionspsychologe Richard Lynn aus Ulster, der sich selbst als "wissenschaftlichen Rassisten" bezeichnet.
Einer der Gründe dafür, warum der wissenschaftliche Rassismus nicht verschwunden ist, ist eine Öffentlichkeit, in der mehr über den Rassismus zu hören ist als über die Wissenschaft. Dies hat für Menschen wie Murray und Wade in Verbindung mit ihren Mediensprachrohren eine Bühne geschaffen, auf der sie sich selbst als bescheidene Verteidiger eines rationalen Nachforschens darstellen. Nachdem wir uns bisher über Gebühr auf ihre offensichtliche Voreingenommenheit konzentriert haben, sollten wir uns nun endlich den wissenschaftlichen Aspekten zuwenden. Die Frage ist doch: Warum genau haben die Rassentheoretiker unrecht?
Genau wie Intelligenz ist Rasse ein notorisch schlüpfriges Konzept. Individuen teilen oft mehr Gene mit Angehörigen anderer „Rassen“ als mit Angehörigen ihrer eigenen „Rasse“. Rasse, so haben viele Wissenschaftler dargelegt, ist ein soziales Konstrukt – was nicht heißt, dass es nicht Gruppen von Menschen (in der wissenschaftlichen Terminologie: „Bevölkerungsgruppen“) gibt, die ein hohes Maß an genetischem Erbgut gemein haben. Die Rassenlehre startet daher mit einer trügerischen Annahme.
Die sogenannte Rassenlehre ist so alt wie Sklaverei und Kolonialismus und galt bis 1945 als allgemein anerkannt. Obwohl sie in der Folge des Holocaust von einer neuen Generation von Forschern und Humanisten abgelehnt wurde, tauchte sie in den 1970ern wieder auf und trat seitdem immer wieder im Mainstream-Diskurs in Erscheinung.
Während meines Abschlussjahrs an einer staatlichen High-School im Südafrika der Apartheid im Jahr 1977 hielt einmal ein Soziologiedozent von der nahen Universität einen Vortrag bei uns und beantwortete danach Fragen. Jemand fragte ihn, ob Schwarze genauso intelligent seien wie Weiße. Nein, sagte er, IQ-Tests zeigten, dass Weiße intelligenter seien. Dabei bezog er sich auf einen 1969 veröffentlichten akademischen Aufsatz des US-amerikanischen Psychologen Arthur Jensen, der die Meinung vertrat, dass der Intelligenzquotient zu 80 Prozent ein Ergebnis unserer Gene sei und nicht des Umfelds, und dass unterschiedliche IQ-Werte bei Schwarzen und Weißen vor allem genetisch bedingt seien.
Während der Apartheid war die Vorstellung, dass jede Rasse ihren eigenen Charakter, eigene Persönlichkeitsmerkmale und ein eigenes Intelligenzpotential besitzt, in Südafrika Teil des Argumentationsgebäudes, mit dem das Systems der weißen Herrschaft gerechtfertigt wurde. Ähnlich politisiert war das Thema Rasse und IQ in den USA, wo man Jensens Aufsatz hernahm, um Sozialhilfeinitiativen wie das Head-Start-Programm abzulehnen, das Kindern helfen sollte, der Armut zu entkommen. Aber der Aufsatz rief eine sofortige und überwältigende negative Reaktion hervor, „einen internationalen Feuersturm“, wie es die New York Times 43 Jahre später in Jensens Nachruf nannte – vor allem an amerikanischen Universitäten, wo Wissenschaftler Gegendarstellungen herausgaben und Studierende stellvertretend Bilder von Jensen verbrannten.
Das Wiederaufleben der Ideen zu Rasse und Intelligenz begann mit einer scheinbar wohlwollenden Beobachtung. 2005 begann Steven Pinker, einer der weltweit bekanntesten Evolutionspsychologen, die Auffassung zu vertreten, dass aschkenasische Juden über eine angeborene besondere Intelligenz verfügten – zuerst in einem Vortrag an einem Institut für Judaistik, dann ein Jahr später in einem langen Beitrag in dem liberalen amerikanischen Magazin The New Republic. Diese Aussage war lange das lächelnde Gesicht der Rassenlehre. Wenn es wahr war, dass Juden von Natur aus intelligenter sind, dann war es nur logisch zu sagen, dass andere eben von Natur aus weniger klug sind.
Der Hintergrund von Pinkers Aufsatz war ein im Jahr 2005 veröffentlichter Artikel mit dem Titel „Naturgeschichte der aschkenasischen Intelligenz“, verfasst von drei Anthropologen der Universität Utah. In dem Artikel vertraten die Autoren die Meinung, dass die hohen IQ-Testergebnisse bei aschkenasischen Juden darauf hindeuteten, dass ihre Intelligenz sich stärker entwickelt hatte als jene anderer Bevölkerungsgruppen, einschließlich anderer jüdischer Gruppen.
Diese evolutionäre Entwicklung sollte ihren Anfang zwischen 800 und 1650 genommen haben, als die aschkenasischen Juden, die vor allem in Europa lebten, durch den Antisemitismus gezwungen wurden, im Gewerbe des Geldverleihs tätig zu werden, das unter Christen einen schlechten Ruf hatte. Die schnelle Entwicklung war zum Teil deshalb möglich gewesen, so der Artikel, weil die Juden kaum außerhalb ihrer Gemeinden heirateten und es daher nur einen „minimalen Zufluss an Genen“ gegeben habe. Das sei auch ein Faktor im Hinblick auf das überproportionale Auftreten von Erbkrankheiten wie dem Tay-Sachs-Syndrom und der Morbus-Gaucher-Krankheit bei aschkenasischen Juden, von dem die Forscher behaupteten, es sei ein Nebenprodukt der natürlichen Selektion hoher Intelligenz. Von jenen, die die Genvariationen oder Allelen dieser Krankheiten hatten, wurde gesagt, sie seien intelligenter als die anderen.
In seinem Artikel in The New Republic griff Pinker diese Argumentationslogik auf und auch sonst nannte er den Aschkenasi-Beitrag „gründlich und gut argumentiert“. Im Weiteren geißelte er jene, die Zweifel am wissenschaftlichen Wert einer Diskussion um genetische Unterschiede zwischen Rassen äußerten, und vertrat die Position, dass „Persönlichkeitsmerkmale messbar, innerhalb einer Gruppe vererbbar und innerhalb verschiedener Gruppen im Durchschnitt etwas unterschiedlich ausgeprägt“ seien.
In den folgenden Jahren stürzten sich Nicholas Wade, Charles Murray, Richard Lynn, der immer populärere kanadische Psychologe Jordan Peterson und andere auf die These von der jüdischen Intelligenz und verliehen damit ihrer eigenen Auffassung Gewicht, dass verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedliche geistige Anlagen erbten. Eine weitere Stimme in diesem Chor war der Journalist Andrew Sullivan, der 1994 einer der lautesten Lobredner für The Bell Curve war und das Buch in der damals von ihm herausgegebenen Zeitschrift The New Republic an prominenter Stelle vorstellte. 2011 kehrte er in die Arena zurück und nutzte seinen beliebten Blog The Dish, um die Ansicht zu verbreiten, dass Bevölkerungsgruppen, was die Intelligenz angeht, unterschiedliche angeborene Potenziale hätten.
Sullivan schrieb, dass die Unterschiede bei aschkenasischen und sephardischen Juden „was die Daten betrifft, ins Auge springen“. Das war ein erstklassiges Beispiel für die Rhetorik der Rassenlehre, deren Vertreter betonen, dass sie die Daten respektieren und nicht die politische Zugehörigkeit. Die äußerste Rechte hat der Rassenlehre sogar einen neuen Namen verpasst, der klingt wie aus einem Uni-Vorlesungsverzeichnis: „Humane Artenvielfalt“.
Ein wiederkehrendes Thema innerhalb der Rhetorik der Rassenlehre ist, dass ihre Gegner sich einer Wunschvorstellung von der Natur der menschlichen Gleichheit schuldig machten. „Die IQ-Literatur deckt etwas auf, von dem niemand möchte, dass es so ist“, sagte Peterson in seiner Youtube-Show kürzlich zu Molyneux. Selbst der bekannte Sozialwissenschaftler Jonathan Haidt bezichtigte die Liberalen, „IQ-Verleugner“ zu sein, die die Wahrheit der vererbten IQ-Unterschiede verschiedener Gruppen ablehnten, weil sie irrtümlicherweise daran festhielten, dass soziale Phänomene ausschließlich von Erziehung abhingen und daher veränderbar seien.
Die Verteidiger der Rassenlehre behaupten, dass sie nur die Fakten beschrieben, so wie sie seien – und dass die Wahrheit eben nicht immer angenehm sei. „Wir gehören weiterhin zur selben Art, so wie Pudel und Beagle“, schrieb Sullivan 2013, „aber Pudel sind im Allgemeinen klüger als Beagles. Die haben dafür einen besseren Geruchssinn.“
Die Rassen„theorie“, die heute wieder öffentlich diskutiert wird, – ob als eindeutiger Rassismus gegenüber Schwarzen oder als scheinbar freundlichere Behauptung wie zur Intelligenz der aschkenasischen Juden –, umfasst normalerweise mindestens eine von drei Behauptungen, von denen keine einzige wissenschaftlich erwiesen ist.
Die erste Behauptung ist, dass die Cro-Magnon-Vorfahren der weißen Europäer, als sie vor 45.000 Jahren in Europa ankamen, sich viel schwierigeren natürlichen Bedingungen ausgesetzt gesehen hätten als in Afrika. In Folge dieser größeren Umweltherausforderungen habe sich eine höhere Intelligenz herausgebildet. „Angesichts des eisigen nordischen Klimas“, so schrieb Richard Lynn 2006, „wären weniger intelligente Individuen und Völker ausgestorben, überlebt haben die intelligenteren.“
Sehen wir einmal davon ab, dass Landwirtschaft, Städte und Schrift zuerst in Mesopotamien entstanden sind, in einer Gegend, die nicht für Kälteeinbrüche bekannt ist. Aber auch aus dem prähistorischen Afrika südlich der Sahara gibt es genug Beweise moderner Intelligenz. In den letzten 15 Jahren haben Höhlenfunde entlang der Küste des Indischen Ozeans in Südafrika gezeigt, dass vor etwa 70.000 bis 100.000 Jahren biologisch-moderne Menschen sehr sorgfältig Farben aus Ocker, Knochenmark und Kohle mischten, Schmuckperlen und raffinierte Werkzeuge wie Angelhaken und Pfeile herstellten, mitunter indem sie sie auf bis zu 315 Grad Celsius erhitzten. Wissenschaftler wie der südafrikanische Archäologe Christopher Henshilwood, die diese Funde erforschen, stellen fest, es seien intelligente, kreative Menschen gewesen – so wie wir. Dazu Henshilwood: „Wir gehen mit dem Zeitpunkt, für den wir symbolisches Denken bei Menschen ansetzen, immer weiter zurück – sehr weit zurück.“
Die Rassenlehre hat in der Vergangenheit nicht nur den politischen Diskurs, sondern auch direkt staatliche Maßnahmen geprägt.
Ein zweiter Strang der rassentheoretischen Argumentation geht so: Der menschliche Körper hat sich – zumindest bis vor kurzem – weiterentwickelt; mit verschiedenen Gruppen, die unterschiedliche Hautfarben, Veranlagungen für bestimmte Krankheiten und Phänome wie Laktoseintoleranz entwickelten. Warum sollte sich also nicht auch das menschliche Gehirn weiterentwickeln?
Das Problem bei dieser Fragestellung ist, dass die Rassentheoretiker nicht Gleiches mit Gleichem vergleichen. Die meisten dieser physischen Veränderungen entstehen aus einzelnen Genmutierungen, die sich innerhalb einer Bevölkerung in einer evolutionsmäßig gesehen relativ kurzen Zeitspanne ausbreiten können. Bei Intelligenz hingegen – auch bei der relativ spezifischen Form, die als IQ gemessen wird –, spielt ein Netzwerk von potentiell tausenden Genen eine Rolle, das mindestens 100.000 Jahre braucht, um nachweisbare Veränderungen aufzuweisen.
Angesichts der Tatsache, dass so viele Gene, die in verschiedenen Teilen des Gehirns arbeiten, in irgendeiner Weise zur Intelligenz beitragen, ist es kaum verwunderlich, dass es kaum Anzeichen für kognitive Fortschritte gibt, zumindest nicht in den letzten 100.000 Jahren. Laut Ian Tattersall, US-amerikanischer Paläoanthropologe und weltweit anerkannter, führender Experte auf dem Gebiet der Cro-Magnon-Menschen, hatte der Mensch lange bevor er Afrika in Richtung Asien und Europa verließ in Bezug auf seine Gehirnleistung bereits das Ende der evolutionären Fahnenstange erreicht. „Wir haben nicht die richtigen Bedingungen für eine in irgendeiner Weise bedeutsame biologische Evolution unserer Art", sagte Tattersall in einem Interview im Jahr 2000.
Wenn es um potentielle Intelligenzunterschiede bei verschiedenen Gruppen geht, zeichnet sich der menschliche Chromosomensatz vor allem dadurch aus, dass es nur sehr wenige Variationen gibt. DNA-Forschungen aus dem Jahr 1987 gehen davon aus, dass alle heute lebenden Menschen auf nur einen afrikanischen Vorfahren zurückgehen: die „mitochondriale Eva“, die vor etwa 200.000 Jahren gelebt hat. Aufgrund dieser in evolutionärer Zeitrechnung relativ jungen gemeinsamen Abstammung haben Menschen – verglichen mit anderen Säugetieren – einen sehr hohen Anteil an gemeinsamen Erbgut. Allein die einzelne Unterart der Schimpansen, die in Zentralafrika lebt, weist beispielsweise deutlich mehr genetische Variationen auf als die gesamte Menschheit.
Noch niemand hat bisher erfolgreich ein „Intelligenz-Gen“ isoliert, und entsprechende Behauptungen in dieser Richtung lösten sich in der Vergangenheit schnell in Luft auf, wenn Fachkollegen sie beurteilten. Prof. Ian Deary, Spezialist für kognitives Altern an der Universität Edinburgh, hat es so ausgedrückt: „Es ist schwierig, nur ein einziges Gen zu nennen, das zuverlässig mit normaler Intelligenz bei jungen, gesunden Erwachsenen in Verbindung gebracht werden kann.“ Intelligenz ist eben nicht ordentlich verpackt und auf einem einzelnen DNA-Strang markiert.
Schließlich klammert sich Rassenlehre noch an eine dritte Behauptung, und zwar daran, dass Unterschiede beim IQ-Durchschnitt in verschiedenen Bevölkerungsgruppen eine genetische Grundlage haben. Wenn aber diese Behauptung widerlegt wird – vom Exzeptionalismus der Aschkenasi hin zur vermeintlichen Unvermeidbarkeit Schwarzer Armut –, dann fällt das ganze Theoriegebäude zusammen.
Bevor wir diese Behauptungen richtig einordnen können, müssen wir einen Blick in die Geschichte der IQ-Tests werfen. In der öffentlichen Wahrnehmung liefern IQ-Tests ein Maßstab unveränderlicher Intelligenz, aber wenn man das genauer anschaut, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Dem bescheidenen Franzosen Alfred Binet, der 1904 den IQ-Test erfand, war klar, dass Intelligenz ein zu komplexes Ding ist, um es mit einer einzigen Zahl ausdrücken zu können. „Intellektuelle Qualitäten ... können nicht so wie lineare Oberflächen gemessen werden", sagte er und fügte hinzu, dass man, wenn man dem IQ eine zu große Bedeutung beimessen würde, „Raum für Trugbilder schaffen würde".
Von den Amerikanern allerdings wurde Binets Test mit offenen Armen empfangen. Sie glaubten, dass der IQ angeboren sei und nutzten ihn für die Formulierung von Einwanderungs-, Rassentrennungs- und Eugenik-Maßnahmen. In frühen IQ-Tests wurden äußerst kulturspezifische Fragen gestellt. („Wieviel Beine hat ein Kaffer? 2,4,6, oder 8?“ war eine der Fragen für US-amerikanische Soldaten im 1. Weltkrieg.) Mit der Zeit wurden die Tests weniger verzerrt und erwiesen sich als sinnvoll, um bestimmte geistige Fähigkeiten zu messen. Aber das sagt uns noch nicht, ob die erreichten Werte hauptsächlich das Produkt der Erbanalagen oder der Umwelt sind. Dafür braucht man weitere Informationen.
Eine Möglichkeit, die Hypothese zu testen, wäre zu untersuchen, ob der IQ durch Lernen steigt. Wenn ja, würde dies zeigen, dass das Bildungsniveau, das ausnahmslos umweltbedingt ist, eine Wirkung auf die Ergebnisse hat. Es ist bekannt, dass die Werte steigen, wenn man die Tests übt, aber andere Formen des Lernens tragen auch dazu bei. 2008 machten Schweizer Forscher einen Versuch mit 70 Studierenden, von denen die Hälfte ein Computerspiel spielen mussten, das das Gedächtnis trainierte. Alle 35 Studierenden erzielten höhere IQ-Werte, und diejenigen, die während der Versuchszeit von 19 Wochen täglich spielten, verzeichneten die größten Verbesserungen.
Eine andere Methode, um herauszufinden, wie sehr der IQ von der Natur bestimmt ist und nicht von der Erziehung, wäre eineiige Zwillinge zu finden, die bei der Geburt getrennt und dann unter sehr unterschiedlichen Umständen aufgezogen wurden. Aber solche Fälle sind selten und ein Teil der einflussreichsten Forschungen aus dem 20. Jahrhundert wie jene des britischen Psychologen Cyril Burt, der behauptete, der IQ sei angeboren, sind sehr unseriös. (Nach Burts Tod stellte sich heraus, dass er einen Großteil seiner Daten gefälscht hatte.)
Eine echte Studie an Zwillingen wurde 1979 von dem in Minneapolis ansässigen Psychologen Thomas Bouchard initiiert und obwohl er großzügig vom offenkundig rassistischen Pioneer Fund unterstützt wurde, sind seine Ergebnisse interessant. Er untersuchte eineiige Zwillinge, die die gleichen Gene haben, aber kurz nach der Geburt getrennt wurden. Dies erlaubte ihm, die unterschiedlichen Anteile, die Umwelt und Biologie bei ihrer Entwicklung spielten, zu prüfen. Seine Hypothese war, dass, wenn bei den Zwillingspaaren die gleichen Merkmale festgestellt würden, obwohl sie in unterschiedlichen Umgebungen aufgewachsen waren, die Erklärung hauptsächlich genetischer Natur sein würde.
Das Problem war, dass die meisten eineiigen Zwillinge in der Studie in die gleiche Art von Mittelstandsfamilien adoptiert wurden. Daher war es kaum überraschend, dass sie am Ende ähnliche IQs hatten. In den relativ wenigen Fällen, in denen Zwillinge von Familien aus unterschiedlichen sozialen Schichten und mit unterschiedlichen Bildungsniveaus aufgezogen wurden, gab es am Ende riesige Unterschiede im IQ – in einem Fall einen Abstand von 20 Punkten, in einem anderen von 29 Punkten, oder, um es im Jargon einiger IQ-Klassifikationen auszudrücken, es war der Unterschied zwischen „Dumpfheit“ und „überlegener Intelligenz“. Anders ausgedrückt: Dort, wo sich die Umgebungen erheblich unterschieden, scheint die Erziehung einen weitaus stärkeren Einfluss auf den IQ gehabt zu haben als die Natur.
Aber was geschieht, wenn man sich von Individuen löst und auf ganze Bevölkerungen schaut? Könnte die Natur nicht doch einen Einfluss auf den IQ-Mittelwert haben? IQ-Tests werden so kalibriert, dass der durchschnittliche IQ aller Testpersonen zu jedem Zeitpunkt 100 beträgt. In den 1990ern stellte der vielleicht wichtigste IQ-Forscher des letzten halben Jahrhunderts, der Neuseeländer Jim Flynn, fest, dass jede Generation von IQ-Tests schwieriger werden musste, um diesen Durchschnitt zu halten. Bei einer Hochrechnung auf den Zeitpunkt vor 100 Jahren fand er heraus, dass, gemessen nach den aktuellen Standards, die durchschnittlichen IQ-Werte bei etwa 70 liegen würden.
Seitdem haben sich die Menschen aber nicht genetisch verändert. Stattdessen, so stellte Flynn fest, seien die Menschen zunehmend in Kontakt mit abstrakter Logik gekommen, jener kleinen Ausprägung von Intelligenz, die IQ-Tests messen. Manche Bevölkerungen sind Abstraktionen mehr ausgesetzt als andere, was der Grund dafür ist, dass die durchschnittlichen IQ-Werte voneinander abweichen. Daraus zog Flynn die Schlussfolgerung, dass alle durchschnittlichen Unterschiede zwischen Bevölkerungen ausschließlich umweltbedingt sind.
Diese Erkenntnis wird durch die Veränderungen durchschnittlicher IQ-Testergebnisse unterstützt, die in manchen Populationen festgestellt werden können. Die schnellste Veränderung wurde laut einer Studie bei kenianischen Kindern registriert, eine Zunahme von 26,3 Punkten zwischen 1984 und 1998. Sie hatte nichts mit Genen zu tun, sondern, wie die Forscher herausgefunden haben, damit, dass sich die Ernährung, Gesundheit und Alphabetisierungsrate der Eltern innerhalb einer halben Generation verbessert hatten.
Wie verhält es sich nun aber mit den aschkenasischen Juden? Seit dem Erscheinen des Fachaufsatzes der Universität Utah im Jahr 2005 haben DNA-Studien von anderen Wissenschaftlern gezeigt, dass die Aschkenasi bei weitem nicht so genetisch isoliert waren, wie in dem Artikel vorausgesetzt wurde. Zu den Behauptungen, dass aschkenasische Krankheiten durch schnelle natürliche Selektion verursacht worden sind, haben weitere Forschungen gezeigt, dass sie durch eine zufällige Mutation verursacht wurden. Und dafür, dass diejenigen, die die Genvarianten für diese Krankheiten tragen, mehr oder weniger intelligent sind als der Rest der Gemeinschaft, gibt es keine Belege.
Aber es war beim IQ, an dem die Argumentation des Artikels wirklich versagte, denn bei Tests, die in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durchgeführt wurden, erreichten aschkenasische jüdische Amerikaner regelmäßig unterdurchschnittliche Werte. In den IQ-Tests, mit denen während des Ersten Weltkriegs US-Soldaten getestet wurden, schnitten zum Beispiel Personen nordischer Herkunft deutlich besser ab als Juden. Carl Brigham, der Princeton-Professor, der die Prüfungsergebnisse analysierte, schrieb dazu: „Unsere Zahlen ... neigen eher dazu, die allgemeine Überzeugung, dass der Jude hochintelligent ist, zu widerlegen“. Im Zweiten Weltkrieg aber lagen die IQ-Werte der Juden dann über dem Durchschnitt.
Ein ähnliches Muster ergab sich bei der Untersuchung von zwei Generationen sephardischer jüdischer Kinder in Israel: die ältere Generation hatte einen IQ-Mittelwert von 92,8, die jüngere von 101,3. Und das war nicht nur bei Juden so. Amerikaner chinesischer Herkunft erreichten 1948 einen durchschnittlichen IQ-Wert von 97, 1990 waren es 108,6. Und der Abstand zwischen Schwarzen und Weißen US-Amerikanern verringerte sich zwischen 1972 und 2002 um 5,5 Punkte. Niemand wird ernsthaft behaupten, dass es innerhalb von ein oder zwei Generationen genetische Veränderungen in den jüdischen, chinesisch-amerikanischen oder afrikanisch-amerikanischen Bevölkerungsgruppen gegeben habe. Der Direktor des Humangenetik-Programms der New Yorker Universität, Harry Ostrer, nahm, nachdem er den Fachartikel der Universität Utah gelesen hatte, eine Steven Pinker entgegengesetzte Position ein: „Das ist schlechte Wissenschaft, nicht weil sie provoziert, sondern weil es schlechte Genetik und schlechte Epidemiologie ist.“
Noch vor zehn Jahren war unser Verständnis der Wissenschaft so fest verankert, dass Craig Venter, jener amerikanische Biologe, der die privaten Forschungen um die Entschlüsselung des menschlichen Genoms leitete, auf die Behauptung, es bestehe eine Verbindung zwischen Rasse und Intelligenz, antwortete: „Für die Annahme, dass die Hautfarbe Intelligenz vorhersagen könnte, gibt es keine Grundlage, weder in wissenschaftlichen Fakten noch im genetischen Code des Menschen.“
Trotzdem hält sich die Rassenlehre hartnäckig in der Vorstellung der Rechten, und die heutigen rechten Aktivisten haben aus früheren Debatten gelernt. Besonders über YouTube werfen sie den linksliberalen Medien und der akademischen Welt vor, sich nicht mit den „Fakten“ auseinandersetzen zu wollen, und benutzen dann die Rassenlehre als politischen Rammbock, um ihre politische Agenda der Kleinstaaterei und der Ablehnung von Sozialhilfe und Entwicklungshilfe durchzusetzen.
Diese politischen Ziele sind zunehmend offensichtlich geworden. Im Interview mit Nicholas Wade legte Stefan Molyneux dar, dass unterschiedliche soziale Konstellationen eine Folge unterschiedlicher angeborener Intelligenzquotienten bei verschiedenen Rassen seien –, europäische Juden mit hohem IQ und Schwarze mit niedrigem IQ, so drückte er es aus. Wade stimmte ihm zu, indem er sagte, dass „die Rolle, die Vorurteile“ im Hinblick auf die sozialen Ergebnisse bei Schwarzen spielten, „klein und verschwindend“ sei. Dann verurteilte er noch die „Verschwendung von Mitteln“ für Entwicklungshilfe in Afrika.
Ähnliches geschah, als Sam Harris in einem Podcast-Interview mit Charles Murray auf die beunruhigende Tatsache hinwies, dass The Bell Curve bei weißen Suprematisten besonders beliebt sei, und fragte, was das Ziel der Erforschung von Unterschieden der Intelligenz nach Rassen sei. Murray zögerte keinen Moment. Der Nutzen läge darin, bestimmte Initiativen abzuwehren wie Quotenregelungen für bestimmte Gruppen in Bildung und Politik, die auf der Voraussetzung gründeten, dass „alle Menschen gleich sind, egal ob Frauen oder Männer, oder welcher ethnischen Herkunft.“
Rassenlehre wird so schnell nicht verschwinden. Ihre Behauptungen können nur durch die langsame und reflektierte Arbeit von Wissenschaft und Bildung widerlegt werden. Und widerlegt werden müssen sie – nicht nur wegen ihrer potentiell grauenhaften menschlichen Konsequenzen, sondern auch weil sie faktisch falsch sind. Das Problem ist nicht – wie die Rechte es darstellt – dass diese Ideen von Zensur oder Stigmatisierung bedroht sind, weil sie politisch unbequem sind. Rassenlehre ist schlechte Wissenschaft. Oder besser gesagt, sie ist überhaupt keine Wissenschaft.
Autor
Gavin Evans lehrt am Birkbeck College, University of London und schreibt regelmäßig über Rassismus, IQ-Forschung und Genetik.
Übersetzung: Maja Linnemann aus dem Englischen
Copyright: © The Guardian
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— Xu Shunda, übersetzt von Lea Schneider
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