Claire Waldoff: Die unangepasste Ikone
Claire Waldoff und die Darstellerin Carolin Karnuth | Foto: © Florian Mag, art/beats / picture alliance
Früher als viele anderen besang sie den Feminismus, die freie Liebe und das freie Leben: die deutsche Sängerin und Kabarettistin Claire Waldoff. Sie trat am liebsten in Männerkleidung auf und prägte mit ihrer unverwechselbaren Stimme die Berliner Kabarett-Szene der Goldenen Zwanziger – bis die Nationalsozialisten ihre Auftritte verunmöglichten. Ein Vorbild für viele Bühnendarsteller*innen bleibt sie dennoch bis heute.
Sylvia Roth
Als der englische Dichter W. H. Auden 1928 mit seinem Freund Christopher Isherwood nach Berlin übersiedelte, lockte die beiden vor allem eines: das freie Nachtleben der Stadt. Berlin sei „ein Traum für Schwule“ schwärmte Auden, während Isherwood seine Eindrücke in den „Berlin Stories“ festhielt, aus dem später sein Musical „Cabaret“ hervorging. Nicht nur Auden und Isherwood, auch viele andere Menschen aus allen Winkeln der Welt zog es in diesen Jahren an die Spree: Berlin galt als Eldorado der queeren Szene, rund 170 homosexuelle Bars und Clubs warben mit ausgefallenen Travestie-Shows und freizügigem Tanz. Eigene Stadtführer wurden für die neugierigen Tourist*innen gedruckt – sie trugen Titel wie „Führer durch das lasterhafte Berlin“ oder „Berlins lesbische Frauen“.
Mittendrin in dieser lebendigen queeren Szene, als Mitfeiernde und als Ikone: Die Sängerin Claire Waldoff. Für sie waren die Trends der 1920er Jahre jedoch nichts Neues, denn vieles davon hatte sie bereits lange vorher zu leben begonnen: Schon 1907 war sie im Männeranzug mit Zylinder aufgetreten, obwohl die Zensoren des Preußischen Polizeipräsidiums dazwischenfunkten. Schon vor dem Ersten Weltkrieg war sie mit ihrer Lebensgefährtin Olga (Olly) von Roeder zusammengezogen. Waldoff war eine Vorreiterin im Unkonventionellen – und das, obwohl ein ganz anderer Lebensverlauf für sie wahrscheinlicher gewesen wäre.
Die rebellische Göre vom Niederrhein
1884 wurde Claire Waldoff, die mit bürgerlichem Namen Clara Wortmann hieß, als Tochter eines Minenarbeiters in Gelsenkirchen geboren, als elftes von 16 Kindern. Eine akademische Ausbildung war in diesem Umfeld nicht selbstverständlich, dennoch bewarb sie sich mit 14 Jahren an einem der ersten Mädchengymnasien des Deutschen Reichs in Hannover, von der Frauenrechtlerin Helene Lange gegründet. Gleiche Bildung für Jungen und Mädchen – das entsprach Claras Plan: Abitur machen, Medizin studieren. Zwar schmiss sie das Gymnasium in Hannover schon nach kurzer Zeit wieder hin und suchte ihr Glück lieber im Theater, aber auch dort faszinierte sie vor allem eins: dass Rollen ebenso wenig zementiert sind wie Lebensverläufe und Identitäten. Sie taufte sich von Clara Wortmann in Claire Waldoff um und schnitt ihre Zöpfe zum kessen Pagenkopf. An den Bühnen von Bad Pyrmont und Kattowitz lernte sie das Theaterhandwerk – und erfand schließlich ihre eigene Rolle: Als rebellische Göre gelang ihr 1907 der Durchbruch auf den Kabarettbühnen Berlins.
Claire Waldoff © Wikimedia Commons
Das Publikum liebte sie auf Anhieb, schnell galt sie als „Volkssängerin“. In ihren Liedern erzählte sie von Köchinnen, Dienstmädchen oder Verkäuferinnen, philosophierte über die Liebe, das Begehren, das Aufbegehren. Ihr Auftreten war in jeder Hinsicht anders und ungewohnt. Konsequent verweigerte sie die Koketterie, die die Chansonetten der Zeit gern kultivierten. Stattdessen griff sie mit ihrem Gesang regelrecht an, schmetterte, röhrte – wirkte bodenständig und anarchisch zugleich. Virtuos switchte sie zwischen den Geschlechtern, sprach aus weiblichen Ichs heraus ebenso wie aus männlichen. Im Lied „Hannelore“ etwa besang sie das Verschwimmen der Gendergrenzen, das Spiel mit den Identitäten: Hannelore geht mit Männern und Frauen ins Bett, keiner weiß, welches Geschlecht sie selbst hat.
Waldoff weigerte sich, eine Projektionsfläche zu sein – die Klischees der Femme fatale oder Femme fragile hebelte sie kurzerhand aus. Ganz deutlich etwa im Lied „Nach meine Beene is ja janz Berlin verrückt“, das später auch Marlene Dietrich in ihr Repertoire aufnahm: Was Dietrich mit lasziver Stimme zur erotischen Nummer auflud, knallte Waldoff ihrem Publikum ironisch hin. Weder stimmlich noch körperlich mimte sie die Verführerische, vielmehr betonte sie den Widerspruch: Im Text des Chansons gab sie sich als männerverschlingenden Vamp, in ihrem nüchternen Auftreten aber entlarvte sie den Mythos der Femme fatale als Männerfantasie.
Zwischen Zensur und Feminismus
Bei der Zensur eckte Waldoff immer wieder an, musste sich für das ein oder andere Lied wegen „Gefährdung der Sittlichkeit“ sogar vor Gericht verantworten. Einschüchtern ließ sie sich aber weder beruflich noch privat, sie lebte ihre sexuelle Orientierung, ohne sich von der gesellschaftlichen Konvention bevormunden zu lassen. Dass sie sich bereits zu Kaiserzeiten öffentlich zu ihrer großen Liebe Olly von Roeder bekannte, war nicht selbstverständlich – denn die wilhelminische Justiz diskutierte den Paragrafen 175, des Verbots der „widernatürlichen Unzucht“ zwischen Männern, auch für lesbische Beziehungen.
Im Liedrepertoire von Claire Waldoff findet sich einerseits ein lautstarker politischer Feminismus, etwa als sie 1926 in einem ihrer Klassiker forderte: „Raus mit den Männern ausm Reichstag, / und raus mit den Männern ausm Landtag, / und raus mit den Männern ausm Herrenhaus, / wir machen draus ein Frauenhaus!“
Plakat für das Linden-Cabaret von Josef Steiner (1914) © Wikimedia Commons
Rückzug ins Private
„Was das Wort Fürchten anbelangt, so stand das nie in meinem Lexikon“, hat Claire Waldoff einmal gesagt. Doch die Nazi-Zeit nahm auch einer Frau wie ihr den scheinbar unverwüstlichen Optimismus: 1933 erhielt sie ein Auftrittsverbot, das aber nach kurzer Zeit wieder zurückgezogen wurde. Dem Regime hätte es zu viele Sympathien verspielt, eine prominente und beliebte Künstlerin wie sie anzugreifen. Dennoch stand sie als Feministin und Lesbe scharf im Visier der Braunhemden. Immer wieder beschwerten sich linientreue Nazis über sie: „Dieses Weib hat die echt jüdische Frechheit, von Anstand zu sprechen, wo sie unter früherem System allabendlich in jüdischen Varietés und Kabaretts von Stinkjuden verfasste und vertonte Ein- und Zweideutigkeiten verzapfen durfte, mit ihrem für deutsche Ohren widerlichen Organ“ – so 1935 ein Parteigänger aus Mühlheim an der Ruhr.
Waldoff versuchte sich zu arrangieren, mogelte sich durch, deutschte die Namen ihrer jüdischen Komponisten ein, wie es die Nazis von ihr verlangten. Zur Emigration konnte sie sich nicht durchringen, zu eng waren ihre Lieder an die deutsche Sprache gebunden, zu sehr brauchte sie das Singen. Als sich ihre Auftritte immer weiter reduzierten, verließ sie Ende der 1930er-Jahre Berlin und zog mit Olly von Roeder in ein kleines Sommerhäuschen bei Bad Reichenhall.
Ein Comeback nach dem Krieg gab es nicht – gegen die neuen amerikanischen Schlager schienen ihre Couplets veraltet, eine Volkssängerin galt nun als anachronistisch. In ihren wenigen Nachkriegsinterviews wirkt Waldoff gebrochen und verbittert, gezeichnet von Schlaganfällen. Eine Rückkehr an die Spree kam nicht infrage, ihre Berliner Wohnung war zerbombt. Verarmt verbrachte sie ihre letzten Lebensjahre bei Bad Reichenhall, wo sie 1957 starb. Sechs Jahre später folgte ihre große Liebe, Olly von Roeder. Gemeinsam sind sie auf einem Friedhof in Stuttgart beerdigt.
Sich nicht verbiegen, egal, was die Konventionen vorgeben: Dazu hat Claire Waldoff ermutigt. Darin lag und liegt ihre Kraft – bis heute.
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