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Die seelischen Kosten von Denkmälern

Renee Harrison 北京德国文化中心歌德学院
2024-09-02
Eine Statue wird in den Fluss gestoßen. | Foto (Detail): © picture alliance / NurPhoto | Giulia Spadafora


Die Debatte ist nicht neu: was soll mit Denkmälern für Personen wie Sklavenhalter*innen oder Kolonisatoren geschehen, die andere Menschen unterdrückt haben? Sollten sie niedergerissen werden oder stehen bleiben? Renee K. Harrison, außerordentliche Professorin für Afroamerikanische und US-Religionsgeschichte an der Howard University, liefert einige Antworten und Ideen. Allerdings fragt sie sich auch, warum es kein Denkmal für die vielen Menschen gibt, die unter der Sklaverei gelitten haben.
 


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Bei Ihrer geplanten (und wegen Reiseschwierigkeiten abgesagten) Teilnahme am Symposium „Rethink and Reload – Monuments in 21st Century Democracies Between Iconoclasm and Revival“ wäre es nicht nur um marginalisierte Gruppen gegangen, die Sichtbarkeit im öffentlichen Raum in Form von Denkmälern, Statuen und Gedenkstätten fordern, sondern auch um den Abriss bestimmter Denkmäler. Was denken Sie über dieses Thema?

Diese Frage wird mir immer wieder gestellt: Sollten wir Denkmäler, die problematisch oder gegen den Fortschritt in einer demokratischen Gesellschaft gerichtet sind, entfernen oder niederreißen und zerstören? Oder sollten wir sie abbauen und an einem anderen Ort erhalten? Sollen sie bleiben oder entfernt werden? Ich zögere immer, diese Frage zu beantworten, weil ich bei diesem Thema zu zwei verschiedenen Lagern gehöre. Persönlich denke ich, dass die Umstände entscheidend sind. Erfordert die vorliegende Situation eine Beseitigung oder eine Bewahrung? Könnte eine bestimmte Gruppe den Standort und den historischen Zusammenhang zu einer bestimmten Zeit als Affront empfinden? Wie hoch sind die Kosten? Und wenn ich von Kosten spreche, meine ich damit nicht Geld, sondern die seelischen Kosten und die Belastung einer bestimmten Gemeinschaft und die seelischen Kosten, die für Einzelpersonen, Gemeinschaften und für die Nation im Laufe der Zeit entstehen. Meines Erachtens liegt die Entscheidung darüber, eine Statue zu entfernen oder zu erhalten bei den jeweiligen Gemeinschaften.
 

Als Historikerin würde ich allerdings für den Verbleib dieser Denkmäler plädieren. Wenn wir von Erinnerung sprechen, geht es in der Regel darum, dass wir zurückblicken auf etwas, das versteckt oder verleugnet oder nicht gesagt oder in einer Erzählung bewusst verschwiegen wurde. Wenn wir uns am Erzählen dieser übergangenen Geschichten beteiligen und dabei auf die dominanten Erzählungen verzichten, dann verlieren wir immer noch das Narrativ. Als Historikerin bin ich der Auffassung, dass wir alle Aspekte benötigen. Sie alle sind Teil unseres kulturellen Gedächtnisses. Denkmäler, die als unheilvoll empfunden werden und für Gesellschaften stehen, die auf Vorherrschaft, Leid und Hass beruhen, müssen bleiben, denn wir müssen ihre Geschichte erzählen. Wir müssen uns daran erinnern, welche menschlichen Gräueltaten stattgefunden haben. Und wir müssen die Geschichten derer in den Vordergrund stellen, die Leid erfahren haben. Diese Geschichten, die ganze Breite der amerikanischen Geschichte, müssen in den Vordergrund rücken, damit wir eine umfassendere Geschichte haben. Wenn ich mir ein Denkmal für eine bestimmte Person oder ein bestimmtes Ereignis ansehe, betrachte ich in diesem Sinne die ganze Bandbreite der amerikanischen Geschichte.
 

Patriotismus kann für die eine Gruppe kultureller Stolz und Bewahrung bedeuten, für die andere menschliches Leid und Ausgrenzung.


Es geht Ihnen also darum, die Denkmäler in einen Kontext zu setzen, um sie im Zusammenhang mit ihrer Entstehungszeit und dem damals vorherrschenden Narrativ zu betrachten und ihre historische Bedeutung zu erläutern?

Ja. Ich denke, Gesellschaften haben bisher nur den patriotischen Teil einer Geschichte erzählt, und zwar die Version derer, die das Wesen des Patriotismus definiert haben. Und genau hier liegt das Problem: Patriotismus kann für die eine Gruppe kultureller Stolz und Bewahrung bedeuten, für die andere menschliches Leid und Ausgrenzung. Deshalb ist das ganze Bild entscheidend. Der Gesamtkontext einer Geschichte, die auf dem Altar eines Denkmals dargeboten wird.


© Unseen Histories, unsplash.com


Wo sehen Sie dann das Problem in der aktuellen Auseinandersetzung? Sie haben gesagt, der Kontext sei wichtig. Wie sollten wir uns also dem Thema der Erinnerungskultur nähern, vor allem im Zusammenhang mit Schwarzer Geschichte? Müssten mehr Menschen daran beteiligt werden?

Meines Erachtens müssen mehr Menschen aus allen Lagern daran beteiligt werden. An der Debatte müssen diejenigen teilhaben, die ein bestimmtes Denkmal wegen seiner patriotischen und heldenhaften Vergangenheit erhalten wollen. Und diejenigen, die es gerade wegen dieser rassistischen, imperialistischen Vergangenheit niederreißen wollen. Und diejenigen, die sich nicht für eine bestimmte Seite entscheiden können. Dann kann es passieren, und das habe ich in meiner Lehrtätigkeit festgestellt, dass die Geschichte eines Denkmals nuancierter wird, weil wir unterschiedliche Versionen der Geschichte hören, die alle wahr sind. Auf diese Weise entsteht ein umfassenderes Bild. Ich denke nicht, dass nur eine Person allein die Kontrolle über ein bestimmtes Narrativ haben sollte. Doch wie auf dem Symposium gibt es viele Menschen, die inhaltlich zu einer Geschichte beitragen, die alle zur selben Zeit in einem Raum sein und sich gegenseitig zum Nachdenken bewegen müssen, um ein Gesamtbild zu erhalten. Und durch diesen menschlichen Austausch ist es dann hoffentlich möglich zu sagen: „Ich muss meine eigene Sichtweise der Geschichte auf den Prüfstand stellen und in einen neuen Kontext setzen, weil ich inzwischen andere Meinungen gehört habe.“

Sie sagten, dass sich viele Menschen bereits mit dem Thema auseinandersetzen. Doch wer beteiligt sich aktuell an den Diskussionen über Erinnerungskultur? Geht es hier lediglich um einen wissenschaftlichen Austausch oder sollte auch die Öffentlichkeit in die Diskussionen und Entscheidungsprozesse eingebunden werden? Wie inklusiv ist das Verfahren?

Ich bin mir nicht sicher, ob es allzu inklusiv ist. Allerdings kann ich nicht für alle sprechen, weil ich nicht weiß, was in anderen Ländern und Regionen geschieht. Was ich jedoch weiß ist, dass ich Teil einer Gruppe bin, die sich mit diesem Thema befasst und die aus Nichtfachleuten, Community-Aktivist*innen, normalen Menschen, Akademiker*innen, Fachleuten, Wissenschaftler*innen, Politiker*innen besteht. Ob wir etwas bewirken können, weiß ich nicht, doch immerhin sind wir miteinander im Gespräch. Die Beantwortung der Frage ist also schwierig, weil es davon abhängt, ob eine Gruppe bereit ist, als breite Koalition zu arbeiten, um Gespräche über Denkmäler und Erinnerungskultur voranzutreiben. Aktuell findet der Austausch in Wissenschaftskreisen statt, die sich auch an verschiedene Teile der Gesellschaft richten. Auf diese Wege bin auch ich in die Unterhaltung eingestiegen: Ich habe ein Buch geschrieben und bin anschließend mit Menschen ins Gespräch gekommen, die sich bereits mit dieser Frage auseinandersetzen.

Wo liegen Ihrer Meinung und Erfahrung nach die Unterschiede zwischen den USA und den europäischen Staaten im Umgang mit Erinnerungskultur?

Als ich 2010 nach Washington D.C. kam, habe ich viele Spaziergänge mit dem Sohn eines Kollegen gemacht. Einer dieser Spaziergänge startete beim Holocaust Museum. Am Ende der Ausstellung sind Schuhe zu sehen. Es waren nur Schuhe, und doch haben sie mich völlig aus der Fassung gebracht. Das ist es, was Denkmäler tun sollten. Ich war wie erstarrt und konnte mich nicht von ihrem Anblick lösen, weil mir die ganze Zeit ein Gedanke durch den Kopf ging: „Diese Schuhe haben Menschen getragen, als sie in die Gaskammern gingen.“ Im Anschluss passierten wir entlang der National Mall die vielen Denkmäler für große weiße Männer. Und ich fragte mich: „Wo ist das Denkmal für diejenigen, die diese Stadt erbaut haben?“ „Wo ist das Denkmal, die Bewahrung, die Anerkennung ihres Blutes, ihres Schweißes und ihrer Tränen, ihrer Arbeit, ihres Einfallsreichtums und ihrer Talente? “ In den USA sehe ich die Gräueltaten des Holocaust – ich sehe sie in den Schuhen. Doch ich finde entlang der National Mall keinerlei Hinweise auf die Grausamkeiten, die während der Sklaverei in den USA verübt wurden. Und der Sohn meines Kollegen sagte: „Warum schreibst du nicht darüber?“ Das war der Startschuss für mein Buchprojekt Black Hands, White House: Slave Labor and the Making of America.


© Social History Archive, unsplash.com


Dabei fand ich auch eine Antwort auf Ihre Frage: Der Unterschied zwischen den europäischen Ländern und ihren Hauptstädten besteht darin, dass sie die Vergangenheit in einer Weise anerkennen und ihr ein Denkmal setzen, wie es die Hauptstadt in den Vereinigten Staaten nicht getan hat. Die Gesetzgeber in der Hauptstadt der USA haben die Arbeit und die Gräueltaten, die an den Schwarzen begangen wurden, nicht anerkannt und ihnen kein Denkmal als eine Form der kulturellen Erinnerung gesetzt. Die Sklaverei existierte in den USA über 250 Jahre lang, und es gibt kein Denkmal auf der National Mall. Inzwischen gibt es ein Museum, aber kein Denkmal, das ausdrücklich zu Ehren derer geschaffen wurde, die beim Aufbau dieses Landes eine Rolle spielten und gegen ihren Willen versklavt wurden. Nichts. Meine Erkundungen führten mich allerdings auch zum Holocaust-Mahnmal in Berlin. Und dort habe ich verstanden, dass das Mahnmal für die ermordeten Juden nicht die Antwort ist. Als ich jedoch von den Schuhen in den USA zu den massiven dunkelgrauen Betonklötzen in Berlin reiste, wurde mir eines klar: hier gibt es Menschen in der Bevölkerung, Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen, Personen mit Geld und die Regierung, die sich in dieser Sache engagieren. Und mir wird klar, dass Europa und zum Teil auch Deutschland etwas gelingt, zu dem die USA nicht in der Lage sind. Wenn ich Deutschland als Beispiel anführe, möchte ich damit nicht sagen, dass dort alles perfekt ist. Doch immerhin wird dort etwas getan. Und wenn ich mir die anderen acht Länder anschaue, die am Sklavenhandel beteiligt waren, dann tun nur die Länder, die Gedenkstätten für die Sklaverei errichten, dies mit Absicht, und es ist ein Beweis dafür, wie sie die kulturelle Erinnerung verankert haben.

Sie sagten, dass einige Denkmäler stark vom Patriotismus und von einer bestimmten Definition des Patriotismus geprägt seien. Wer definiert ihrer Meinung nach, was Patriotismus ist? Und denken Sie, dass diese Auslegung einen Einfluss auf die Gestaltung von Statuen und Denkmälern in den USA hat?

Ja, und ich denke, dass sie zudem vom Konzept der weißen Vorherrschaft und des weißen Nationalismus geprägt sind. Von der Idee, dass Weißsein als eine Art Krone der menschlichen Schöpfung gesehen wird. Diejenigen, die sich diese Art von Überlegenheit und Rechtmäßigkeit zuschreiben, tun dies, um ihre Version von sich selbst und ihrer kulturellen Geschichte unter Ausschluss der anderen zu fördern. In gewissem Sinne sagen sie der Gesellschaft: Warum sollte ich diejenigen fördern, die als minderwertig gelten? Warum sollte ich ihnen ein Denkmal setzen? Denn ein Denkmal dient doch der Verehrung, oder? Man tut es, weil man die Person oder die Gruppe verehrt, die etwas für die eigene Sache getan hat oder etwas getan hat, das man für gut und patriotisch hält, das die Nation bereichert. Meines Erachtens hatte der Patriotismus in seiner frühen Form ein weißes, nationalistisches Antlitz und stand für eine bestimmte Art des Amerikanischseins. Was wiederum zur Amerikanischen Revolution führte. Es gab also das dringende Bedürfnis, einen anderen Weg oder eine Identität zu prägen, die nichts mit alldem zu tun hatten, was außerhalb der Definition des weißen Nationalismus oder der weißen Vorherrschaft lag.
 

Die Denkmäler wurden auf der Grundlage patriotischer, weißer nationalistischer, christlicher und patriarchalischer Überzeugungen errichtet.


In Ihrer Forschung konzentrieren Sie sich unter anderem auf die interreligiöse Auseinandersetzung mit einer Vielzahl von Themen, welche die afroamerikanische Gemeinschaft betreffen. Gibt es mit Blick auf Schwarze feministische Sichtweisen aus Ihrer Sicht Herausforderungen im Umgang mit diesen Fragen und insbesondere mit dem öffentlichen Gedächtnis, aus interreligiöser Perspektive?

Historisch gesehen, wurden die Denkmäler auf der Grundlage patriotischer, weißer nationalistischer, christlicher und patriarchalischer Überzeugungen errichtet. Hier liegt das Problem. Genau dieses Bild vermittelt doch ein Spaziergang entlang der National Mall in Washington D.C., oder? Man sieht Schreine für weiße christliche Männer. Für tapfere Männer, die in den Krieg gezogen sind oder als die großen Denker der Zeit gelten. Deshalb ist es die Aufgabe aller Menschen, die auf die eine oder andere Weise zum kulturellen Gedächtnis beitragen, einen feministischen Blick auf diese Erinnerung zu werfen, denn es geht nicht nur darum, auch Frauen oder eine christliche PoC im Narrativ zu berücksichtigen. Sondern auch darum, ein Narrativ in Frage zu stellen, das bestimmte Gruppen bewusst auslässt. Und eine bestimmte Denkweise über das Wesen der Amerikaner*innen fördert, die besagt, dass Amerikaner*innen weiße, angelsächsische Protestant*innen sind, die für ihre Selbsterhaltung kämpfen. Unsere Aufgabe ist es daher, in der kulturellen Erinnerung und im Denkmalbau nicht nur die eine durch eine andere Sicht zu ersetzen, sondern unseren Blick zu weiten. Dabei ist die feministische und interreligiöse Perspektive wichtig, denn ohne sie würden wir nur dasselbe Gedankengut mit anderen Menschen besetzen.

Die Frage ist doch, was es wirklich bedeutet, sich mit diesem Thema aus mehreren Blickwinkeln auseinanderzusetzen. Für mich bedeutet es, Kritik zu üben, aus feministischer Sicht die bestehende Ordnung in Frage zu stellen und diese Ordnung neu zu definieren, damit sie das gemeinsame Gut umfassender repräsentiert.



Autorin:

Renee K. Harrison, Professorin, Autorin, Künstlerin.


Erste Veröffentlichung: August 2023, Zeitgeister, www.goethe.de

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