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Wohin das Leben führt, da ist unser Tanz.

Cao Kefei 北京德国文化中心歌德学院
2024-09-02

Ein Porträt der chinesischen Choreografin und Pionierin des Dokumentartanztheaters Wen Hui

Text / Cao Kefei

Zwei Tage vor dem Internationalen Frauentag 2024 wurde Wen Huis neustes Werk  „New Report on Giving Birth“ in HAU (Hebbel am Ufer) Berlin aufgeführt, das die Choreografin 2023 im Künstler:innenhaus Mousonturm in Frankfurt am Main entwickelt und uraufgeführt hat. Nach wie vor beschäftigt sich die Choreografin mit (weiblichen) Körpern, macht die ihnen innewohnenenden Erinnerungen konkret und sichtbar, erweitert die Räume zwischen Privatem und Öffentlichem. 

Auf der anderen Seite gibt sie einen Einblick in die patriarchalischen Systeme, aus denen die vier Tänzerinnen aus unterschiedlichen Kulturen stammen, und zeigt ihren Mut, sich von eingefahrenen Praktiken zu befreien. In „New Report on Giving Birth“ möchte Wen Hui eine Art von Architektur aufbauen, die eng mit natürlichen Materialien, Menschen und Erinnerungen verbunden ist und auf die Zukunft weist. 

Thematisch, akustisch und visuell bringt sie den Wunsch zum Ausdruck, die Welt gemeinsam mit anderen zu verändern. Die Autorin blickt auf die Uraufführung „Report on Giving Birth“ vor 25 Jahren zurück, versucht Wen Huis Lebensgeschichte und ihrem damit verwobenen künstlerischen Werdegang auf die Spur zu kommen und stellt eine große Veränderung zwischen den beiden “Berichten“ fest.

Report on Giving Birth

Winter 1999. Im Kleintheater, das dem Beijing Volkskunsttheater angehörte, herrschte eine gespannte Atmosphäre. Es war kurz vor der Uraufführung von „Report on Giving Birth“ der Choreografin und Tänzerin Wen Hui, einer Produktion ihres regierungsunabhängigen Living Dance Studios, das erstmals mitten im Zentrum der Hauptstadt eine Arbeit zeigte. Der Eintritt war frei, das Theater voll, es gab keine Sitzplätze, die Zuschauer konnten sich frei bewegen. 

Die Spielfläche war mit bunten Bettlaken bedeckt. Eine weiße, große, wattierte Bettdecke hing im Raum. Eine Frau im Alltagskleid saß am Tisch und erzählte vor sich hin, während ein Mann unter der Bettdecke „auf der Bühne“ schlief, als wäre er zuhause. Das erste Bild, dem wir begegneten, war so vertraut, als sei es aus unserem Alltag gegriffen. Alle waren sehr aufgeregt, weil alles anders aussah als wir vom  Theater gewohnt waren.

Wen Hui, „Report on Giving Birth“, Foto: Lin Youjuan

Nach mehr als 20 Jahren erinnere ich mich noch immer an diesen Abend, an die eindrücklichen Bilder und den Schmerz, der durch die Bewegungen und die meistens im Dialekt gesprochenen Erzählungen, hervorgerufen wurden. Die hängende Bettdecke, aus kleinen Stoffteilen zusammengenäht, bot als Projektionsfläche eine dokumentarische Ebene, die mit dem Spiel verwoben war.  Auf sie wurden die Mütter der DarstellerInnen projiziert, sie berichteten über ihre Erfahrungen von Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft, Material, das aus zahlreichen Gesprächen Wen Huis mit ihnen entstanden war. 

Der Filmmacher Wu Wenguang interviewte die anwesenden Tänzerinnen während der Vorstellung mit einer Videokamera und übertrug ihre Gesichter live auf die Bettdecke. Die Verwendung von Materialien aus dem Alltag - ein typisches Merkmal von Wen Huis Arbeiten - war damals außergewöhnlich. Wie stille Zeitzeugen wirkten die Steppdecken und gebrauchten Bettlaken, die Wen Hui, von Haus zu Haus sammelte.  Sie wurden zusammengelegt und auseinandergefaltet, wurden als Gepäck oder wie ein Kind auf den Körpern der Frauen getragen oder wurden zu einem Teil ihres Körpers. Doch all das Vertraute ging weit über das Alltägliche hinaus, rief in den Zuschauern persönliche Erinnerungen wach und regte auch kritische Reflexionen über die Darstellungsästhetik des konventionellen Theaters an.

Living Dance Studio

Wen Hui ist eine Pionierin im dokumentarischen (Tanz)theater in China. Neben ihrer Arbeit für die Bühne, dreht sie Dokumentarfilme, konzipiert Installationen und kuratiert Kunstprojekte. Sie ist 1960 in der Stadt Kunming in der südwestlichen Provinz Yunnan geboren. Dort begann sie mit 13 Jahren eine klassische Tanzausbildung. Aufgrund ihrer Körpergröße - klein und zierlich – durfte sie nie als Solotänzerin auftreten und stand bei Gruppentänzen immer am äußersten Rand. 

Das waren prägende Erfahrungen in einem erstarrten System. In den 80er Jahren studierte Wen Hui Choreografie, ein neu gegründetes Fach an der Beijing Tanzakademie. Nach dem Abschluss im Jahr 1989 wurde ihr eine Stelle als Choreografin im staatlichen Orientalischen Gesangs- und Tanzensemble zugewiesen. 

1994 verbrachte Wen Hui sechs Monate in New York, was ihren Horizont über Tanz und Kunst erweiterte und einen entscheidenden Impuls für ihre künstlerische Entwicklung gab. Zurück in Beijing gründete sie gemeinsam mit ihrem künstlerischen Partner, dem Dokumentarfilmemacher Wu Wenguang, das Living Dance Studio, um den Tanz auf den Boden der Realität und Kunst in Kontakt mit der Gesellschaft zu bringen. 

Wunsch war es, „das Leben zu zeigen wie das Leben selbst“ und sich damit sowohl von staatlicher Ideologie als auch von der kommerziellen Manipulation abzusetzen. Die Choreografiin verwarf erlernte Dogmen wie Expressivität und Virtuosität und entwickelte ein besonderes Gespür für Geschichten, Körpersprache und Materialien aus der realen Welt. Die erste Performance des Studios „100 Verbe“ basierte auf alltäglichen Verben von etwa 10 Beteiligten aus unterschiedlichen Berufen und markierte eine Wende im Wen Huis kreativen Prozess. Seither arbeitete sie in ihren Produktionen gleichberechtigt mit Menschen aus unterschiedlichem Hintergrund, professionellen Darstellern und Künstler:innen aller Disziplinen zusammen.

Ihre spätere Trilogie „Report on Giving Birth“, „Report on the Body“ (2002) und „Report on 37,8˚C“ (2005) verband dokumentarisches Material mit künstlerischen Mitteln und prägten den Stil des Living Dance Studio.
2005 zog das Studio in die Chao Chang Di Workstation im Nordosten Beijings ein, eröffnete ein eigenes Theater und bildete eine fast familiäre Gemeinschaft. In dieser Peripherie fanden zahlreiche Workshops, Aufführungen und Begegnungen statt. 

2008 schlug das Living Dance Studio mit der achtstündigen Performance „Memory“ eine neue Richtung ein. Private Erinnerungen, Fotos und dokumentarisches Filmmaterial von Wen Hui, Wu Wenguang und der Schriftstellerin Feng Dehua (die Erzählerin am Esstisch in „Report on Giving Birth“) aus der Zeit der Kulturrevolution von 1966 bis 1976 waren Ausgangspunkt für diese sehr persönliche und körperliche Bühnendokumentation. Im Anschluss startete das Studio 2009 das Langzeitprojekt „Volksgedächtnis-Projekt“ (Minjian jiyi jihua). Ziel war es, tiefer in die Gesellschaft und Geschichte des Landes einzudringen. 

Das Projekt lud Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten dazu ein, mit einer Videokamera an ihren jeweiligen Herkunftsort zurückzukehren und dort bestimmte Perioden der jüngeren chinesischen Geschichte zu erforschen, die nie verarbeitet worden sind. Wen Hui begann damals, ihre eigenen Dokumentarfilme zu drehen. Aus diesem Volksgedächtnis-Projekt entstand eine Serie von Dokumentationen und Bühnenstücken: „Memory II: Hunger“ (2010), „Memory on the Road“ (2011), „Listening to Third Grandmother´s Stories“ (2012), „Memory III: Tombstone“ (2012). 2014 kam es zu einem harten Einschnitt in Wen Huis Leben. 

Aufgrund rapider ansteigender Mietpreise auf dem Immobilienmarkt musste Living Dance Studio die Chao Chang Di Workstation verlassen. Seitdem führt die Künstlerin mit ihrem Living Dance Studio ein Nomadenleben.
Künstlerische Interventionen im historischen Bewusstsein
Zurück zum Abend von „Report on Giving Birth“. Ich erinnere mich noch, dass nachder Premiere viele Freunde und Zuschauer noch lange im Theater blieben und anfgeregt diskutierten, bis der Nachtportier das Tor schließen musste. Es war die Zeit des künstlerischen Aufbruchs in Peking. 

Nach einem Jahrzehnt wurde dieser wieder gebremst und erdrosselt, das Kleintheater ist bereits im Zuge einer Stadterneuerung abgerissen worden. Was ist heute, 25 Jahre später, von Peking aus dieser berauschenden Zeit geblieben?

Ich finde „Report on Giving Birth“ exemplarisch für Wen Huis Interesse an individuellen Schicksalen, ihrer Suche nach persönlichen Erinnerungen und ihrem Blick auf konkrete Erfahrungen von Frauen. Es sind die Menschen mit ihren individuellen Geschichten, die die Geschichte des Landes widerspiegeln, eine Geschichte, die offiziell tabuisiert und im kollektiven Bewusstsein dem Vergessen preisgegeben ist. 

Ein überzeugendes Beispiel dafür ist die Produktion „Memory II: Hunger“, die Wen Hui gemeinsam mit jungen Menschen erarbeitet hat, von denen die meisten in den 80er Jahren geboren wurden. Sie verhandelte die so genannte „Dreijährige Naturkatastrophe“, in Wirklichkeit die Hungerkatastrophe, die sich zwischen 1959 und 1961 als Folge der verordneten Landreform und des „Großen Sprungs nach vorn“ ereignete. 

Wen Hui und diese  jungen Menschen kehrten gemeinsam in ihre Heimatdörfer zurück, um ihre Großeltern und andere ältere Menschen zu befragen, die diese Zeit miterlebt hatten. In der Aufführung spielten diese jungen Menschen auf der Bühne und präsentierten ihre Interviews als wichtige Zeitdokumente.

Die soziale Prägung des Körpers

„Report on Giving Birth“ ist aber auch exemplarisch für Wen Huis unermüdliche Erforschung des Körpers und ihre Suche, die Grenzen des Tanzes zu erweitern. Für sie hat jede Lebensgeschichte ihre Brandmale am Körper hinterlassen. Die Choreografin äußerte anlässlich ihrer Arbeit an „100 Verbs“: „Ich denke dabei nicht, wie man tanzt, sondern dass man es macht. Ich mag es, mit Menschen zusammenzuarbeiten. 

Ihre Körper sind real. Wir legen keinen Wert auf Körpertechnik. Die Lebenserfahrung ist die Technik. Ich bin überzeugt, wo das Leben hinführt, da ist unser Tanz.“ Mit diesem Bewusstsein bringt Wen Hui die unterschiedlichsten Menschen zusammen. Seien es die Wanderarbeiter in „Dance with Migrant Workers“ (2001), sei es ihre dritte Großmutter und ihre Mutter in „Listening to Third Grandmother´s Stories“, die Schriftstellerin in „Memory“ oder der tschechische Ingenieur in „Ordinary People“, um nur einige Beispiele zu nennen. Wen Hui erforscht den Körper wie mit einem Skalpell, Schicht für Schicht legt sie das Individuelle, das Einzigartige frei. 

Für die achtstündige Version von „Memory“ ging die Choreografin noch einen Schritt weiter: Sie nahm ihren eigenen Körper ins Visier und untersuchte die Verbindung zwischen Körpersprache und sozialer Prägung. Während des Probenprozesses verzichtete sie bewusst auf eine komplexe künstlerische Form und wählte für sich nur eine einzige Bewegungslinie und -sequenz: die Bewegung nach vorwärts, rückwärts, atmen, gehen. Eine eingeprägsame Körperhaltung, die sie an ihr Erwachsenwerden als Frau erinnerte. In der Performance stand Wen Hui acht Stunden lang auf der Bühne und wiederholte diese Sequenz wie im Zen. Sie sagt: „Der menschliche Körper kann wirklich über sich selbst hinauswachsen. Mit deinem Körper gehst du weiter als mit deinem Gehirn.

„Listening to Third Grandmother's Stories“, Foto: Yan Xiaoting

Frauenschicksale

2011. Wen Hui steckte in einer tiefen Lebenskrise. Sie nahm das „Volksgedächtnis“-Projekt zum Anlass, in ihre Heimat, die Provinz Yunnan, zu reisen und eine 84-Jahre alte Frau in einem abgelegenen Bergdorf namens Da He Bian (auf Deutsch: Neben dem großen Fluss) aufzusuchen. Sie war die dritte Tante von Wen Huis Vater und wurde Dritte Großmutter genannt. Die Künstlerin fragte sich damals, warum ihr Vater ihr nie von dieser Verwandten erzählt hatte. 

Als sie nach seinem Tod beschloss, ihre eigne Familiengeschichte zu erforschen, erfuhr sie von dieser dritten Großmutter, der letzten Überlebenden ihrer Generation. Die Künstlerin verspürte ein großes Bedürfnis, diese Frau kennen zu lernen. In ihrer Soloperformance „I am 60“ erzählt sie von dieser einzigartigen Begegnung: „Dritte Großmutter stand um 7 Uhr auf und wartete am Dorfeingang auf mich. So als hätte sie 50 Jahre lang am Ende eines Tunnels auf mich gewartet, wie auf ihre eigene Enkelin, die endlich nach Hause kommt. 

Sie erzählte mir ihr ganzes Leben.“ Wen Hui erfuhr zu ihrem Erstaunen, dass Dritte Großmutter ihrer tatsächlichen Enkelin genau den gleichen Namen gegeben hatte, den Wen Hui trug. Sie hörte Dritte Großmutter zu, lebte, tanzte und probte mit ihr. Dritte Großmutters Erzählungen reichten von ihrer Kindheit in einem wohlhabenden Elternhaus, ihrer arrangierten Ehe in jungen Jahren und ihrer Scheidung vor der Befreiung bzw. Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949, über die große Landreform danach und die Enteignung des gesamten Familienbesitzes bis zum traumatischen Selbstmord ihrer Mutter. 

Wen Hui erfuhr Familiengeheimnisse von denen sie nie zuvor gehört hatte. Was sie aber am meisten bewegte, war, dass sich Dritte Großmutter trotz all dieser unvorstellbaren Schicksalsschläge ihren Humor und ihre Lebenskraft bewahrt hatte.

Zwischen 2011 bis 2012 besuchte die Künstlerin das Dorf dreimal und dokumentierte die eindrücklichsten Momente mit dieser Frau. Im Film „Dance with Third Grandmother“ (2015) sehen wir, wie sich die beiden Frauen unterschiedlicher Generationen tanzend annähern, innig berühren und umarmen. Die Jüngere sagt zu der Älteren: „A Nai (Großmutter im Dialekt), wenn wir traurig sind, dann tanzen wir. Wenn wir tanzen, werden wir nicht mehr traurig.“

Im Jahr 2013 reiste Wen Hui zum vierten Mal in das Dorf Da He Bian und erfuhr, dass Dritte Großmutter für immer gegangen war. Aber für die „Enkelin, die endlich nach Hause kommt“ ist sie nie gegangen. Ihr Geist wirkt seit der ersten Begegnung wie ein Leuchtfeuer für die Künstlerin fort. 

Er gibt ihr Kraft, nicht aufzugeben, treibt sie aber auch an, über die festgelegte Struktur und die miserable Stellung der (chinesischen) Frauen im patriarchalischen System gründlich nachzudenken. Diese Begegnung hat Wen Huis vielseitiges Können entfaltet. Sie entwickelte zwei Dokumentarfilme über Dritte Großmutter und ein multimediales Bühnenwerk, das aus der Perspektive dreier Frauen-Generationen erzählt.

Die Beschäftigung mit Frauenschicksalen vertiefte Wen Hui 2015 mit der Performance „Rot“. Im Jahr 2014 feierte das revolutionäre Modelballett „Das Rote Frauenbataillon“ sein 50-jähriges Jubiläum, eines von acht Modellopern, die Mao Zedongs Frau Jiang Qing während der Kulturrevolution für die staatliche Propaganda ins Leben gerufen hatte. 

Vor diesem historischen Hintergrund suchte die Künstlerin die ehemaligen Tänzerinnen des Modelballetts auf und führte Gespräche mit Zeitzeugen. Schließlich dekonstruierte sie mit drei weiteren Performerinnen die hierarchischen Bühnenauftritte, die pathetischen Tanzbewegungen, die verschlüsselten Kostüme und Requisiten dieses Modelballetts. In der Neuinszenierung machte sie die aufopfernde Rolle der Frauen und die Lüge in der Gegenwart sichtbar.

I am 60

2020. Wen Hui wurde 60 Jahre alt. Sie nahm dieses Datum zum Anlass, Rückschau zu halten und über ihr bisheriges Leben zu reflektieren. So entstand ihre jüngste und zugleich erste Soloperformance „I am 60“, die 2021 beim Kunstfest Weimar uraufgeführt wurde. Für diese Performance ließ sie sich von jenen Stummfilmen inspirieren, die das ungerechte Schicksal der Frauen und ihren Willen, sich daraus zu befreien, thematisierten und in den 1930er Jahren in Shanghai ihre Blütezeit feierten. 

Begleitet vom inneren Dialog mit Dritte Großmutter, reflektiert die Künstlerin über ihre Kindheit und ihre Mutter, deren Lebenseinstellung sie stark beeinflusst hat, aber auch über ihre Lebenskrise als Frau und Künstlerin. Parallel zum autobiografischen Teil und Kontakt mit dem Körper der Performerin sehen wir historische Fotos und aktuelle Statistiken über die (prekäre) Situation der chinesischen Frauen in einem von Männern dominierten System. 

Die Fragen nach der sozialen Stellung der Frau in der chinesischen Gesellschaft ist derzeit besonders aktuell, nachdem Anfang Februar 2022 die unerhörten Fotos und Videosequenzen von einer angeketteten Frau, die in einem Dorf in der Jiangsu Provinz lebt und 8 Kinder zur Welt gebracht hat, im chinesischen Internet zirkulierten. Diese Frau war gekidnappt, vergewaltigt und als Gebärmaschine brutal misshandelt worden. Dieses Ereignis offenbarte eine der dunkelsten Seite der Gesellschaft.

„I am 60“, © Nora Houguenade

In „I am 60" arbeitet Wen Hui mit der Dramaturgin Zhang Zhen, Professorin für Filmstudien an der New York University, zusammen. Sie verwenden die Darstellungsmethode des „linked drama", die während der Stummfilmzeit in Shanghai entstand und die Wen Hui bereits auch in anderen Bühnenarbeiten verwendet hatte: Filmbilder fungieren als Panorama und interagieren mit der Live-Performance. Die Projektion dient als Schwelle zwischen fiktiver und realer Welt, zwischen Vergangenheit und Gegenwart und umgekehrt. Durch das Zusammenspiel von Live-Performance, Video und Audio entsteht ein aufeinander bezogenes Gesamtkunstwerk. 

Es ist Wen Huis bisher persönlichste Performance, die gleichzeitig durch die Epochen der chinesischen (Frauen)Geschichte führt. Ein wunderbares Geburtstagsgeschenk für sich selbst und für uns Zuschauer.

Im Film „Dance with Third Grandmother“ gibt es einen ergreifenden Dialog zwischen Wen Hui und Dritte Großmutter beim Tanzen:
W: A Nai, siehst du mich?
T: Ich sehe dich.
W: Ich sehe dich auch. A Nai, wo bist du?
T: Ich bin hier. Wen Hui, siehst du mich?
W: Mein Herz sieht dich.
T: Ich sehe dich auch.

„Third Grandmother“ ist als leuchtende Lampe in dieser Soloperformance allgegenwärtig. Wen Hui gibt das Licht an uns weiter. Sie glaubt, dass jedes Leben seine Zeit findet, um sich voll zu entfalten. Ich glaube, Wen Huis Leben blüht mit 60 Jahren noch einmal auf.

Neuer Report on Giving Birth24 Jahre nach der Uraufführung von „Report on Giving Birth“, präsentierte Wen Hui die Bühnenarbeit „New Report on Giving Birth“ im November 2023 im Künstler:innenhaus Mousonturm in Frankfurt am Main . Was ist das „Neue“? Diesmal sind es ausschließlichFrauen, die auf der Bühne eine Welt aus bunten Laken und weißen Decken bauen. Diese Alltagsgegenstände werden als formbare „vitale Materie mit ihrer eigenen Materialität zu einer anderen Art von Darstellern auf der Bühne.“ (aus: Chen Tians Artikel „Vibrant Matter“). 

Man kann diese Arbeit durchaus als Fortsetzung des frühen „Report“ sehen, sie vermittelt jedoch viel mehr. Die vier Tänzerinnen, darunter Wen Hui, kommen aus China, Iran, Thailand, Italien und Deutschland und gehören verschiedenen Generationen an. Diese Konstruktion eröffnet eine vielschichtige Klang- und Bildlandschaft, die den “Neuen“ deutlich vom frühen „Report“ unterscheidet.

„New Report on Giving Birth“, © Jörg Baumann

Zu eingespielten Atemgeräuschen betritt eine Frau die Bühne, die ein rundes Stoffpaket entweder über dem Bauch und Kopf oder über den Armen und Schultern trägt. Es sieht aus wie ein Schwangerschaftsbauch, ein Kleinkind, ein Handgepäck oder eine Last, alles, was zum Leben von Frauen gehört. Eine weiße Decke wird ausgepackt und im Raum aufgehängt. Darauf werden die Porträts der Tänzerinnen und ihrer Mütter projiziert. 

Das Besondere darin ist, dass jedes vollständige Porträt aus der Projektion und den posierenden Beinen der Tänzerin besteht, die hinter der Projektionsfläche steht. So unterschiedlich diese Frauen erscheinen, so sehr werden sie bildlich auf Gemeinsamkeiten reduziert. Was verbindet sie, die aus den unterschiedlichen Kulturen und Epochen stammen?

Diese montierte Sequenz dient als Ausgangspunkt für persönliche Erzählungen und damit verwobene Körperbewegungen der vier Protagonistinnen. Im Gegensatz zu den Müttern, die noch stärker in der überlieferten patriarchalen Struktur verhaftet sind, treten diese Frauen selbstbewusster auf. 

Sie begegnen sich hier als Mütter und Nicht-Mütter, offenbaren ihre freien Lebensentscheidungen, Mutter zu werden oder nicht.  Sie zeigen den Mut, sich von überkommenen Praktiken zu befreien, und die unglaubliche Lust zum Tanz und zum Leben. Wen Hui, die älteste von allen, erklärt, dass sie mit 60 Jahren ein neues Leben beginnen wird.

Parallel zu dem Privaten werden die unterdrückende Politik und ihr gesellschaftliches Umfeld vor Augen geführt. Ungebrochener Mut mischt sich mit tiefer Trauer. Die Fotos der oben erwähnten angeketteten Frau werden auf ein hängendes Bettlaken mit rotem Blumenmuster projiziert. Es sieht aus, als ob Blutflecken auf den Gesichtern kleben. Wen Hui beschreibt damit die prekären sozialen Probleme in China und den Keim, der zum tragischen Schicksal dieser Frau geführt hat. 

Im Hintergrund wiederholt eine Stimme „I am scared.“ Wen Hui erinnert an das Ereignis, das vor zwei Jahren aufgedeckt wurde, damit es nicht in Vergessenheit gerät. Wegen der Zensur in den chinesischen Medien weiß heute niemand, wo diese Frau ist und wie es ihr ergeht.

„New Report on Giving Birth“, © Jörg Baumann

Alle abgespielten Stimmen und Geräusche wie Gesprächsfetzen, Atmen, Flüstern, das Knacken von Sommerblumenkernen werden von den vier Tänzerinnen aufgenommen und vom Sounddesigner rekonstruiert. Die eingespielten Lieder haben mit ihrer Lebensgeschichte zu tun und werden von ihnen selbst gesungen. 

Diese Klanglandschaft neben und mit der Bildlandschaft öffnet nicht nur unsere Wahrnehmung für nicht-visuelle, nicht formulierbare Erinnerungen und Empfindungen der Frauen, sie schafft auch eine damit verbundene und darüber hinausreichende Raum-Zeit. „New Report on Giving Birth“ hebt die Frauen als Autorinnen des gesamten Bühnenmaterials hervor.

Es ist dunkel. Ein melancholischer Gesang erklingt. Dann sehen wir ein riesiges Bettlaken auf dem Boden ausgebreitet, das aus vielen kleinen bunten Laken besteht. Es sieht aus, als läge eine Weltkarte vor uns, auf der überall „Blutflecken“ zu sehen sind. Ein erschütterndes Bild in der gegenwärtigen Weltlage.

„New Report on Giving Birth“ , © Jörg Baumann


Das Lied wird von der iranischen Tänzerin auf Persisch gesungen, der Text lautet: „It´s a wall, it´s a wall, it´s a wall, it´s a wall that it does not have anything behind it, they have covered the top of the wall as black eyebrows, the sun does not rise through it any more……”. Wir verstehen die Bedeutung dieser Worte vor Ort nicht, aber wir spüren die unmittelbare Atmosphäre von Trauer, Repression und Wut.

Am Ende der Aufführung werden aktuelle iranische Proteste gegen religiösen Nationalismus und Autoritarismus auf verschiedene Materialien projiziert, auf die am Bühnenboden liegenden Decken, vor allem auf die fleischigen Rücken der vier Protagonistinnen, die eng aneinandergepresst auf dem Boden sitzen. Mit dieser phänomenalen Bildlandschaft verschiebt Wen Hui die Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, verbindet die Idee revolutionärer Solidarität mit der Materialität der „Körper als verbundene Territorien“ (aus dem chilenischem Performancekollektiv LASTESIS). 

Im letzten Bild des Abends fangen vier Frauen an, die schönen Bettlaken eins nach dem anderen im warmen Licht aufzuhängen. Wir sehen eine Art Architektur entstehen, die eng mit natürlichen Materialien, Menschen und Erinnerungen verbunden ist. Später sitzen vier Frauen darin und unterhalten sich fröhlich in ihrer Muttersprache. Ist das nicht unsere Utopie vom Zusammenleben? In „New Report on Giving Birth“ bringt Wen Hui thematisch, akustisch und visuell den Wunsch zum Ausdruck, die Welt zu verändern. Gemeinsam mit anderen.

Weitere Aufführungste
rmine von „New Report on Giving Birth“:
Hellerau, Dresden: 06/07.12.2024
PACT, Essen: 12/13.12.2024


💃 Die Autorin 💃

Cao Kefei, geboren in Shanghai, lebt in Berlin und Shanghai/Beijing, wo sie als Theater-/Dokumentarfilmregisseurin, Autorin und Übersetzerin arbeitet. Sie ist Mitbegründerin vom Performancekollektivs LadyBird. Seit langem begleitet sie die künstlerische Arbeit von Wen Hui. Gemeinsam mit Sabine Heymann und Christoph Lepschy hat sie den Band Zeitgenössisches Theater in China (Alexander Verlag, Berlin 2017) herausgegeben.


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