Chengdu: Identität bedarf keiner Definition
© Yi Hong
Ciacia habe ich über BUSH DEFINITION (叢林) kennengelernt, ein gemeinnütziges Forum zur Verbreitung von Independent-Filmen, das, so mein Eindruck, so etwas wie eine magische Existenz in dem üppigen Kulturdschungel von Chengdu führt.
„Ich bin es seit jeher gewöhnt hart zu schlafen. Deshalb leide ich richtig, wenn ich unterwegs auf einer Matratze schlafen muss. Dann habe ich das Gefühl, gleich zu ersticken.“ Ciacia (查欣佶) stützt ihr Gesicht in die Hände und zieht eine drollige Grimasse. „Mein Großvater ist ein pensionierter Kader und hat früher Propagandaarbeit für die Truppen der Armee gemacht. Meine Vorliebe für harte Betten geht auf seinen Einfluss zurück.“
Ich treffe Ciacia auf der Terrasse von Starbucks im The Mixc, einem riesigen Shopping-Mall-Komplex am Osttor von Chengu. Ein frühsommerlicher Regenschauer hat kleine Pfützen auf dem Boden hinterlassen, während die Sonne jetzt schon wieder vom Himmel strahlt. Das Klima ist mild und angenehm, wie diese Stadt. Es scheint alles perfekt.
Ciacia habe ich über BUSH DEFINITION (叢林) kennengelernt, ein gemeinnütziges Forum zur Verbreitung von Independent-Filmen, das, so mein Eindruck, so etwas wie eine magische Existenz in dem üppigen Kulturdschungel von Chengdu führt. Am 14. Mai 2019 hatte Ciacia bei WeChat eine Nachricht gepostet: „Es war nur Zeit für ein Bild: Auch im neunten Jahr geben wir wieder Gas!“ Dazu das Schwarz-Weiß-Foto einer Kinovorstellung, bei der ein altmodischer Filmprojektor einen pinkfarbenen Slogan aufpoppen lässt: Acht Jahre BUSH DEFINITION.
Später schickte Ciacia noch einen Link zu einem Artikel auf der Internetplattform Douban: „Why do we call it the BUSH“ (叢林,之所以为叢林). Der Text im Stil eines Manifests markiert die unauffällige Landnahme von BUSH DFINITION in Chengdu. Zeitpunkt der Veröffentlichung: 11.10.2011 - 12:31:42. Wie ich sehe, hatte der Artikel damals ganze sechs Likes bekommen.
Das Nachwuchsfilmfest FIRST im November 2017: Ciacia im Dialog mit einem jungen Filmemacher © BUSH DEFINITION
Aber wie kommen sie auf den „Busch“? Dazu ein paar Auszüge aus dem „Manifest:
„Why do we call it the BUSH“? Weil wir in einem Betondschungel ein kleines kulturelles Biotop errichten wollen.“
„BUSH DEFINITION möchte als nicht gewinnorientierte Organisation zur Verbreitung von unabhängiger Kultur kein vorgedachtes Ergebnis vorlegen, sondern durch Aktivitäten wie Filmvorführungen, Ausstellungen, Vorträge, Veröffentlichungen und Vertrieb Menschen, die gerne unabhängig denken und sich frei ausdrücken wollen, ein Forum zum Gedankenaustausch bieten. Jeder Teilnehmer soll darin unterstützt werden, aus seinen individuell-einzigartigen Lebenserfahrungen und Bildungshintergründen heraus unser kulturelles Biotop zu „definieren“, um in dieser Diskussion neue Ideen zu entwickeln und neue Verhaltensweisen anzuregen.“
„BUSH DEFINITION möchte Dinge tun, die ‚nichts mit der Mainstream-Gesellschaft, aber mit dem Akademischen, Privaten, Selbstfinanzierten und Selbstbestimmten zu tun haben’. Es geht darum, das kulturelle Leben in unserer Stadt vielfältiger und schöner zu machen!“
In den vergangenen acht Jahren hat Ciacia für BUSH DEFINITION in Chengdu mehr als 300 nationale und internationale Filmvorführungen geplant und durchgeführt: Das deutsche Blitzfilm Festival, das China Queer Film Festival, das Sonderprogramm des zweiten Festivals des Deutschen Films in China (inklusive einem Diskussionsforum mit Georg Maas, der dort seinen Film Zwei Leben vorstellte), das China Independent Animation Film Forum 2015, eine Diskussionsrunde zu dem Film Crosscurrent (长江图), der 2016 bei der Berlinale mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, 2019 das Frozen Point Film Festival sowie eine Filmreihe über japanisches Theater. So wurden kontinuierlich Filmscreenings mit den Arbeiten unabhängiger chinesischer Filmemacher angeboten und zudem „Filmproduktionsworkshops“ durchgeführt, um den Nachwuchs zu unterstützen.
„Für dieses Jahr haben wir uns Bühnenverfilmungen des bekannten japanischen Theaterregisseur Yukio Ninagawa besorgt. Es gibt eine Reihe mit seinen Shakespeare-Stücken, die er auf die Bühne gebracht hat. Er ist übrigens der Vater von Mina Ninagawa“, ergänzt Ciacia begeistert. „Die berühmte Fotokünstlerin, die so fantastische Aufnahmen von Blumen macht? Wie toll, dass die Meisterwerke ihres Vaters nach Chengdu kommen. Doch wie kommt es, dass sich BUSH DEFINITION dieses Jahr plötzlich für das Theater stark macht? Eigentlich sind euer Markenzeichen doch Independent-Filme?“ Damit scheine ich einen wunden Punkt getroffen zu haben: „Hat das vielleicht mit der etwas angespannten gesamtgesellschaftlichen Atmosphäre zu tun?“ Ciacia zögert ein paar Sekunden: „Richtig, deshalb kümmern wir uns dieses Jahr einmal um die „ästhetische Bildung“. Wir machen Nischenkultur für das große Publikum. Dabei arrangieren wir für unsere Zuschauer diesmal keine Themenschwerpunkte, sondern bieten einfach einen visuellen Kanal an und erweitern so den Horizont der Öffentlichkeit. Die Bevölkerung von Chengdu bekommt nicht oft Zutritt zu den heiligen Hallen der Theaterkunst und Ich hoffe, dass die Screenings mit den Bühnenverfilmungen gut laufen werden.“
„In Chengdu definiert man sich nicht gerne durch einen bestimmten sozialen Status, diese Toleranz und Freiheit nimmt man sich hier.“ Sagt Ciacia lachend, wobei sich ihre Augen zu zwei Halbmonden verengen. In ihrem blau-weiß-gestreiften Kleid, mit ihrer entspannten Art zu reden und dem Anflug von Schüchternheit wirkt sie wie das typische nette Mädchen von nebenan. 2009 hatte sich Ciacia an der Technischen Universität Chengdu für das Fach Rundfunkjournalismus eingeschrieben, konnte sich jedoch nicht mit den dogmatischen Kursinhalten der Dozenten anfreunden. Sie stellte fest, dass die Nachrichtenmedien ihrer Funktion, die Wirklichkeit in allen ihren Ebenen wahrheitsgetreu zu reflektieren, nicht gerecht wurden. „Ich bin fast nicht mehr zum Unterricht gekommen. Kursinhalte und Realität klafften einfach zu weit auseinander.“
In ihrem vierten Studienjahr begann Ciacia mit ein paar Kommilitonen, die sich für den Film genauso begeisterten wie sie, für den privaten Filmverein Lapianshi (拉片室) aus Nanning zu arbeiten und organisierte Filmabende an verschiedenen Universitäten in Chengdu. Dann kamen Online-Plattformen für Filme auf und nachdem sich jeder daran gewöhnt hatte, im Internet nach Filmen zu suchen, die sich herunterladen ließen, verlegten sie sich darauf Micromovies und Kurzfilme vorzustellen und konzentrierten sich dabei auf Jugendthemen. Damals brachten das Tudou Media Festival und der Filmsalon City Lights eine Reihe sehr nachdenklicher und kreativer Kurzfilme. „Ich erinnere mich noch an den Film The Damn Fatty (该死的胖子). Der korpulente Regisseur hatte sich eine Kamera vor den Bauch gebunden und die Linse direkt auf sein eigenes Gesicht gerichtet. Ein Dialog zwischen einem Dicken und der Kamera. Heutzutage gibt es nur noch wenige Filmstudenten an den Hochschulen, die so lebendige und innovative Ideen haben wie vor sieben oder acht Jahren.“
Im Jahr 2010 kehrte der junge Künstler Wen Chuan (文川) von Peking nach Chengdu zurück. Als er feststellte, dass es in Chengdu keine professionelle Institution zur Förderung von Independent-Filmen gab, rief er BUSH DEFINITION ins Leben und zeigte einmal monatlich an einem festen Wochenende Filme von unabhängigen Regisseuren. Unter anderem den Dokumentarfilm Fortune Teller (算命) von Xu Tong (徐童), in dem der Regisseur Randgruppen porträtiert. Ciacia, die damals zum ersten Mal in Berührung mit dieser Art von Dokumentarfilmen kam, war tief berührt. Seitdem ist sie bei BUSH DEFINITION dabei. „Sie fangen mit ihrer Kamera die echten Seiten Chinas ein, eben die Aspekte, die in den Nachrichten nicht vorkommen. Zum Beispiel das Leben von gesellschaftlichen Randgruppen wie Obdachlosen oder Bettlerinnen. Mir wurde klar, dass Regisseure die wahren Journalisten sind und die Aufgaben von Nachrichtenredakteuren übernommen haben.“
„Dabei bringen sie vielleicht nur alle sechs bis acht Jahre einen neuen Film heraus. Derzeit gibt es in China nur noch sehr wenige unabhängige Filmemacher, und noch weniger Filmemacherinnen wie Ma Li (马莉), Ji Dan (季丹) oder Feng Yan (冯艳). Seit 2010 gibt es für diese Regisseure kaum noch Kanäle, über die sie ihre Filme veröffentlichen können. Weil die Überlebensräume immer enger werden, sind viele ins Fach von Propaganda und Kommerz gewechselt, um so für ihre Filme ein ‚Drachenlogo’, also die offizielle Genehmigung des staatlichen Filmbüros zu bekommen.“
Gefragt nach den Ereignissen, die bei ihr in den acht Jahren BUSH DEFINITION den stärksten Eindruck hinterlassen haben, nennt Ciacia das China Queer Film Festival, das 2011 Station in Chengdu machte. Damals hat sie das erste Mal erlebt, wie der Film in direkter Interaktion mit der lokalen Bevölkerung gesellschaftlich etwas bewegen kann. Auch ihr selbst war die schwule Community damals noch völlig fremd, aber durch den Austausch auf dem Filmfest wurden ihr die Augen über diese in der Stadt marginalisierte Minderheit geöffnet. Das Festival bestand aus den Programmreihen Rainbow, Boys, Girls und Coming Out. Die Homosexuellen aus Chengdu, die zu den Filmen kamen, hatten sich gegenüber Freunden und Verwandten meist noch nie geoutet. Aber die Identifikation mit den Filmprotagonisten inspirierte sie dazu, aktiv und mutig ihre eigenen Geschichten zu erzählen.
2017 wurden unter dem Motto ''Love Knows No Gender'' (爱无性别) Filme über Schwule aus Hongkong, Macao und Taiwan in Chengdu gezeigt. Erstmals wurden Indiefilme zusammengestellt, um Diskussionen über ein Thema anzustoßen, das für den chinesischsprachigen Raum von einem gemeinsamen gesellschaftlichen Interesse war. Seitdem sind soziale Randgruppen eines der Themen, mit denen sich Ciacia beschäftigt und arbeitet. Der Kunstfilm The Night (夜) des 21-jährigen Filmemachers Zhou Hao (周豪), der an der Chongqing University of Posts and Telecommunications studierte, schildert beispielsweise das Leben eines „Money Boys“, eines Sexarbeiters und wurde schon in der Sektion Panorama bei der Berlinale 2014 gezeigt. „Es gibt immer Leute, die über den Film ihre persönlichen Ansichten über das gesellschaftliche Geschehen ausdrücken möchten, das ist eine Tradition des Kunstfilms. Früher habe ich in den chinesischen Kunstfilmen immer viel Wut gespürt, doch mittlerweile wirken sie besänftigt.“ Auch Jacob Wong (王庆锵), der bei der Berlinale als Filmscout für Asien zuständig ist, meint, die in den 90er Jahren geborenen chinesischen Filmemachern hätten einen „neuen Look“ gefunden. Sie sind eine Generation ohne historischen Ballast, die sich nicht für politische Metaphern und große Narrative interessiert, stattdessen schenkt sie den Erfahrungen des „Individuums“ mehr Aufmerksamkeit.
Die Zukunft ist immer ungewiss. Doch während die Generation ihrer Eltern dazu tendiert, sich Sorgen zu machen, hat Ciacia ihren Platz in der Gesellschaft langsam aber sicher gefunden. 2018 veränderte sie sich beruflich und wechselte zu BUSH DEFINITION. Im Internetzeitalter führen immer mehr atomisierte Individuen eine einsame Existenz vor ihren digitalen Endgeräten. Ciacia möchte gute Kunst und gute Filme mit ihnen teilen, um mehr Gleichgesinnte und freie Geister anzusprechen/wachzurufen.
„Heute Abend gibt es noch eine Theatervorführung mit Avantgarde-Musik und ich muss zu den Proben ins Theater. Früher habe ich mich der visuellen Wahrnehmung hingegeben, aber jetzt interessiere ich mich mehr für Musik und entwickle meinen Hörsinn.“ Ciacia hat jeden Tag ein volles Programm. „Was immer die Zukunft auch bringen mag, zumindest werde ich vorläufig Chengdu nicht verlassen. Hier sind Freunde und Verwandte und meine geliebten Großeltern, die mir ein Gefühl von Freiheit und Sicherheit geben.“
Für den Abend hat mich Ciacia ins Eastern Suburb Memory Sound Theatre (东郊记忆声音剧场) in Chengdu eingeladen. Die General Rabbit Music Company (兔将军音乐剧团) spielt The New Story of the Stone (新石头记), ein absurdes und lebendiges Bühnenstück. Alle Zuschauer erheben sich ausgelassen von ihren Plätzen, sie winken mit den Armen und verleihen der „Unerträglichen Schwere des Lebens“ eine persönliche Stimme.
Ciacia, die in der hinteren Reihe des Theaters steht, lächelt verlegen. Ein zarte Person, die weiß, was sie will.
Letztlich sind es immer die Taten, die deine Haltung definieren.
BUSH DEFINITION (叢林), gegründet im April 2011, ist eine gemeinnützige und unabhängige Organisation zur Kulturförderung. Sie lebt von dem gemeinsamen Engagement einer Gruppe junger Freiwilliger, die Kunst und Film lieben. Ihr Ziel ist es, über Filmscreenings, Vorführungen, Diskussionsrunden, Veröffentlichungen und Vertrieb besonders individuelle und unabhängige kulturelle Strömungen zu entdecken, einzubinden und zu fördern. BUSH DEFINITION hat gute Aussichten, ein besonderer und äußerst dynamischer Veranstalter von Independent-Kultur in Chengdu zu werden.
WeChat-Name: bushdefi
E-Mail: bushdefi@sina.com
Sina Weibo: http://weibo.com/bushdefi
Facebook: https://www.facebook.com/bushdefi
QQ-Group: 191650642
Autorin: Yi Hong liebt als kreativer Mensch Schreiben und Kunst und verfolgt gerne das Leben spannender Leute. Sie ist künstlerische Leiterin und federführende Redakteurin des Magazins AXD Space Art (AXD空间艺术). Yi Hong schrieb unter anderem Beiträge für die chinesische Ausgabe des amerikanischen Magazins Artforum (艺术论坛), die Online-Zeitschrift Randian (燃点在线艺术杂志) sowie das Kunstmedium TANC. Sie zeichnete das Buch Beizhe (贝者) und war Herausgeberin des Bildbands An Independent Person: Juan I-Jong Photography Document (一个单独行进的人——阮义忠摄影文献展). Ihre Arbeiten Nerve Contract / The Ship of Theseus / Sun and Moon Positive Map (神经契约/忒修斯之船/日月善应图) wurden bei dem Video und Online-Kunstprojekt und „E - ART 17……“ im Rahmen der New York Armory Show 2018 gezeigt.
Copyright: Dieser Text wurde vom Goethe-Institut China unter der Lizenz Creative Commons BY-SA 3.0 DE veröffentlicht.
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