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Antisemitismus – Überblick und Erscheinungsformen

Miriam Bistrovic 北京德国文化中心歌德学院
2024-09-02

Foto: Victoria Strukovskaya @struvictoryart | © unsplash.com


Der Begriff des Antisemitismus wurde im 19. Jahrhundert im Umfeld des Journalisten Wilhelm Marr geprägt und richtete sich seit seiner Entstehung ausschließlich gegen Jüdinnen und Juden. Binnen weniger Jahrzehnte erlebte die Bezeichnung und die damit einhergehende Diskriminierung jüdischer Personen eine enorme Verbreitung und traf grenzübergreifend bei Rassisten auf fruchtbaren Boden. Eine Entwicklung, die Hannah Arendt in einem New Yorker Artikel am 26.12.1941 folgendermaßen zusammenfasste: „Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher.“

Heutzutage ist Antisemitismus weltweit anzutreffen. Entgegen der mitunter fälschlich getroffenen Aussage, dass eine Beziehung zwischen dem jüdischen Bevölkerungsanteil eines Landes und dem Vorkommen von Antisemitismus herrschen müsste, ist es in der Realität völlig unabhängig von der Anzahl bestehender jüdischer Gemeinden vor Ort. Vielmehr bestärkt diese irrtümliche Annahme lediglich das antisemitische Vorurteil, dass Jüdinnen und Juden eine vermeintliche (Mit-) Schuld am Antisemitismus hätten. Der Antisemitismus benötigt jedoch keinerlei real existierende Jüdinnen oder Juden, um sein Aufkommen zu rechtfertigen, sie dienen ihm lediglich als Projektionsfläche für seinen Hass.

Ungeachtet seiner globalen Verbreitung fehlt bis heute eine weltweit bindende Definition des Antisemitismus, die z. B. im Rahmen der Strafverfolgung genutzt werden könnte. Ein international viel beachteter Vorstoß in diese Richtung war die Working Definition des European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (EUMC) aus dem Jahre 2005. Sie wurde 2016 offiziell von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) übernommen und seither in vielen der 34 Mitgliedsstaaten als einheitliche Definition angenommen wurde, so auch in Deutschland. Sie lautet: „Der Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und / oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“

Foto: Anton Mislawsky @antonmislawsky | © unsplash.com


Während der Begriff des Antisemitismus und dessen rassistische Ausformung relativ jung sind, handelt es sich beim religiös motivierten Hass auf Juden und politisch sanktionierter Judenfeindschaft keineswegs um neue Phänomene. Der Antijudaismus lässt sich in Europa bereits seit den ersten Christianisierungsbestrebungen nachweisen und war Ursache zahlreicher gewalttätiger Ausschreitungen, Verfolgungswellen und grausamer Pogrome vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Jüdinnen und Juden wurden als „Christusmörder“ und „Wegbereiter des Antichristen“ verunglimpft. Ihnen wurden Hostienschändungen sowie Ritualmorde unterstellt und bei Epidemien und wirtschaftlichen Missständen dienten sie den Machthabenden sowie Opportunisten als willkommene Sündenböcke, die als vermeintliche „Brunnenvergifter“ oder sich angeblich am Elend anderer bereichernde „Wucherer und Schacherer“ verfolgt, ausgestoßen und vielfach ermordet wurden.

Von dieser Form der religiös begründeten Judenfeindschaft wollten sich die Anhänger des Antisemitismus abgrenzen, indem sie im Rassismus eine pseudowissenschaftliche Erklärung für ihren Judenhass suchten. Ihnen zufolge seien Jüdinnen und Juden eine „fremde Rasse“ mit, wie sie behaupteten, unabänderlichen, vererbbaren Wesensmerkmalen und äußeren Eigenheiten, die den „Volkskörper“ bedrohte. Dabei wandelten die Antisemiten des 19. Jahrhunderts mittelalterliche Motive um, aus dem Stereotyp des „Schacherers“ wurde das neue Feindbild des Spekulanten oder des Kapitalisten. Zusätzlich ergänzten sie diese Vorurteile um Weltverschwörungsfantasien wie die „Protokolle der Weisen von Zion“ sowie die angeblich von jüdischen Akteuren beherrschten Finanzmärkte und Medien.

 „Protokolle der Weisen von Zion“ | © wikipedia.org


Während die antisemitische Ideologie der Nationalsozialisten in einem mörderischen Vernichtungswillen kulminierte, dessen Ziel die systematische Ermordung des europäischen Judentums war, führte sie ausgerechnet bei der verbündeten Achsenmacht Japan zu einem vollkommen anderen Ergebnis. Selbst überzeugte japanische Antisemiten setzten sich mitunter für einen Schutz von Jüdinnen und Juden im japanischen Herrschaftsgebiet ein.  Obwohl japanische Ideologen die gleichen Stereotype heranzogen, wie sie die Nationalsozialisten propagandierten, wich ihre Argumentation davon ab. Angesichts der aus antisemitischer Sicht für real erachteten Beherrschung der Weltmächte durch die imaginierten Weisen von Zion äußerten japanische Vertreter die These, dass es für Japan sinnvoller sei, sich diese ominöse Macht gewogen zu halten und gegebenenfalls von deren Wissen und Einfluss zu profitieren, statt jüdische Schutzsuchende zu verfolgen oder zu ermorden. Diese komplette Neuinterpretation des überlieferten judenfeindlichen Konstrukts, rettete wohl tausenden Jüdinnen und Juden auf ihrer Flucht aus Europa das Leben.
Trotz der grausamen Verfolgung und millionenfachen Ermordung europäischer Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus und dessen Verurteilung auf internationaler Ebene, existiert Antisemitismus weiterhin. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich der sogenannte sekundäre Antisemitismus, der sich vor allem aus der Erinnerung an die Verbrechen und dem Versuch einer Schuldabwehr speist. Seine typischen Erkennungsmerkmale sind die Holocaustleugnung oder Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen, der Versuch einer Täter-Opfer-Umkehr, durch die Juden eine vermeintliche Schuld an Verfolgung oder Antisemitismus zugeschrieben werden soll, sowie der Vorwurf einer angeblichen Instrumentalisierung der Shoah oder Bereicherung an den Verbrechen durch jüdische Institutionen.

Foto: Benjamin Rascoe@dapperprofessional | © unsplash.com


Die neueste und zurzeit virulent auftretende Form des Antisemitismus äußert sich im Gewand der „Israelkritik“. Entgegen des Namens handelt es sich dabei oftmals nicht um das Kritisieren politischer Entscheidungen oder einzelner Aspekte z.B. der Wirtschafts- oder Außenpolitik des Landes, sondern vielmehr um eine mehr oder minder geschickte Umwegkommunikation zur Äußerung judenfeindlicher Ressentiments. Als ein rasches Erkennungsmerkmal für eine antisemitische Motivation der Agierenden eignet sich unter anderem der sogenannte 3-D Test von Natan Sharansky (Dämonisierung, Doppelstandards und Delegitimierung). Wenn Israel oder Israelis dämonisiert, bei der Kritik doppelte Standards angewandt oder dem Land und dessen Bevölkerung ihr Existenzrecht abgesprochen werden, spricht dies eindeutig für israelbezogenen Antisemitismus. Spätestens der Blick auf die häufigsten Elemente offenbart die enge Verknüpfung zu anderen Ausformungen des Antisemitismus: sie reichen von Holocaustleugnung und –relativierung (z.B. durch die Gleichsetzung Israels mit dem Hitler-Regime) über Variationen mittelalterlicher Stereotype wie des Ritualmordvorwurfs oder der Brunnenvergiftung (wenn beispielsweise israelische Soldaten beschuldigt werden, sie würden gezielt Unschuldige oder Kinder töten, das Trinkwasser verunreinigen oder Krankheiten verbreiten) bis hin zu religiösen Angriffen (die dem Judentum pauschal eine „alttestamentarische Rachsucht“ oder ein Vorgehen „Auge um Auge“ unterstellen).

Exkurs: Antisemitismus im Internet
Gerade im Internet finden antisemitische Agitatoren ein äußerst ergiebiges Betätigungsfeld. Die länderübergreifende Vernetzung ermöglicht ihnen in scheinbarerer Anonymität auf kaum überschaubaren und nur schwer kontrollierbaren Plattformen einen raschen Austausch mit Gleichgesinnten und das zunehmende Eindringen in den medialen Mainstream. Sobald in Leserbeiträgen oder bei Posts in Internetforen Jüdinnen und Juden aus der Bevölkerung ausgegrenzt werden (z.B. indem die Beitragenden stets von „den Juden“ im Gegensatz zu „uns“ sprechen) oder konsequent pauschale Gleichsetzungen von „den Juden“, Israelis, jüdischen Amerikanern oder jüdischen Gemeinden in Europa stattfinden, ist dies ein erster Indikator. Vor allem gepaart mit auffälligen Einleitungssätzen, wie „Ich habe nichts gegen Juden, aber…“, der Durchbrechung fantasierter Tabus und Kommunikationsverbote wie „man wird doch wohl mal sagen dürfen“ oder „wenn ich die Gruppe beim Namen nenne, wird der Eintrag bestimmt wieder gelöscht“, sowie der vehementen Forderung nach „unabhängiger Geschichtsforschung“ und „Meinungsfreiheit“ wird die antisemitische Agenda mancher Forenbeiträger rasch ersichtlich. Diesen Aktivistinnen und Aktivisten gilt es als aktive Zivilgesellschaft entschieden entgegen zu treten: sei es, dass es im World Wide Web gelingt, demokratische Kräfte zu bündeln, um Ihnen aktiv Paroli zu bieten, durch gemeinsame Aktionen Aufmerksamkeit zu erzielen oder durch Aufklärung gesellschaftliches Engagement und den Kampf gegen Antisemitismus zu stärken.

Autor: Dr. Miriam Bistrovic, Berlin Representative des Leo Baeck Institutes. Miriam Bistrovic promovierte zu „Antisemitismus und Philosemitismus in Japan“. Ihre aktuellen Forschungsgebiete sind jüdisches Exil (insbesondere in Ostasien) und Diaspora, Erinnerungskulturen und Antisemitismus.
Copyright:Dieser Text ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz.



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