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Strafbarkeit im digitalen Raum: Gewalt im Netz

N. Holstein 北京德国文化中心歌德学院
2024-09-02


Ein großes Abzeichen der britischen Wohltätigkeitsorganisation Girlguiding mit der Aufschrift „Online harm is real harm. Beenden Sie ihn jetzt“. Neue Untersuchungen der Wohltätigkeitsorganisation haben ergeben, dass mehr als drei Viertel der 13- bis 21-jährigen Mädchen und jungen Frauen im Jahr 2021 online Schaden erlitten haben. | Foto (Detail): Ben Queenborough © picture alliance / empics

Vermeintlich lustige Bilder auf Facebook, ein falsches Dating-Profil auf Tinder, Beleidigungen auf Twitter: Anna Wegscheider von der Beratungsorganisation Hate-Aid spricht im Interview über geschlechtsspezifische Unterschiede von digitaler Gewalt und die träge Justiz.


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Frau Wegscheider, Sie sind interne Juristin bei Hate-Aid, einer der wenigen Beratungsstellen für digitale Gewalt in Deutschland. Was ist digitale Gewalt?

Wir benutzen den Begriff digitale Gewalt, weil es ein sehr breiter Begriff ist, der unterschiedlichste Phänomene erfasst. Zum einen ist dort der Gewaltbegriff enthalten, der neben physischer vor allen Dingen auch psychische Gewalt umfasst. Zum anderen liegt der Fokus auf dem „Digitalen“, das heißt Handlungen mithilfe technischer Kommunikationsmittel oder online. Digitale Gewalt ist kein rechtlicher Begriff und er geht auch viel weiter als beispielsweise Hate Speech oder Hasskriminalität. Diese sind verhältnismäßig eng, weil hierbei eine klare Zielrichtung vorausgesetzt wird. Wir haben aber zum Beispiel auch Fälle, bei denen Personen über eine Spyware angegriffen oder gehackt werden, oder bei denen die Tatmotive nicht klar sind. Diese Fälle wären bei Hate Speech oder Hasskriminalität nicht erfasst.


Warum ist es so wichtig, auf digitale Gewalt aufmerksam zu machen, wenn es doch auch so viel tätliche Gewalt in der analogen Welt gibt?

Diesen Fehlschluss hören wir leider auch immer wieder von Betroffenen. Wenn sie Fälle von digitaler Gewalt zur Anzeige bringen möchten, werden sie leider häufig noch immer nicht ernst genommen. Im schlimmsten Fall bekommen sie von den Polizist*innen zu hören, wieso sie sich online denn so äußern würden oder dass sie sich von der entsprechenden Plattform einfach abmelden sollten. Das ist wahnsinnig realitätsfremd. Heutzutage sind sehr viele Menschen beruflich auf das Netz angewiesen. Und selbst wenn nicht, das Internet ist einer der größten Diskursräume, den wir haben. Wenn ich dann Betroffenen von digitaler Gewalt sage, wenn ihr das nicht aushaltet, dann zieht euch aus dem Netz zurück, dann schieben wir immer mehr Meinungen aus dem Diskursraum raus. Dann bleibt überspitzt gesagt, eine kleine, aggressive, laute, oft rechte Minderheit übrig, die diesen Diskurs komplett für sich einnimmt. Außerdem wird total unterschätzt, was digitale Gewalt beim Menschen anrichtet. Die bedrohliche Kulisse, die online aufgebaut wird, schwappt auch schnell ins reale Leben über. Da hilft es nicht, den Laptop zuzuklappen.

© The Conversation

Was sind die häufigsten Fälle, die bei Euch landen?

Der häufigste Fall ist die klassische Beleidigung – das heißt also Schimpfwörter, Fäkalsprache und andere Herabwürdigungen, dahinter kommen üble Nachrede und Verleumdung. Bei Frauen sind es vermehrt herabwürdigende Inhalte, die gegen das Aussehen und das Geschlecht als solches gerichtet sind, oftmals auch sexualisierte. Und was in letzter Zeit häufiger wird, ist bildbasierte Gewalt. Das sind vor allen Dingen Fälle, in denen Frauen beziehungsweise Personen, die als Frauen gelesen werden, betroffen sind, bei Männern ist bildbasierte Gewalt de facto nicht relevant. Das kann beispielswiese das Veröffentlichen oder Verbreiten von pornografischen Bildern oder Videos ohne Einwilligung der abgebildeten Person sein oder auch das Anlegen eines Fake-Profils mit dem Foto einer betroffenen Person, Dating-Profile zum Beispiel.


Welche Personengruppen sind hauptsächlich von digitaler Gewalt betroffen?

Grundsätzlich kann man sagen, dass es wirklich jeden treffen kann, auch unabhängig davon, ob ich überhaupt in sozialen Netzwerken unterwegs bin. Besonders häufig betroffen sind aber bestimmte Gruppen, wie Journalist*innen, Politiker*innen auf allen Ebenen, Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und Angehörige marginalisierter oder diskriminierter Gruppen. Sobald diese Kategorien sich überschneiden oder decken, steigt auch das Risiko, von digitaler Gewalt betroffen zu werden, exponentiell an.

Generell sehen wir bei den Fällen in unserer Beratung ungefähr eine Gleichverteilung der Geschlechter, mit einem leicht höheren Frauenanteil. Bei der Prozesskostenfinanzierung allerdings haben wir eher 70 Prozent Frauen und 30 Prozent Männer.

Prozesskostenfinanzierung heißt zusammengefasst, dass wir in geeigneten Fällen die Kosten für zivilrechtliche Schritte übernehmen und somit auch das volle Kostenrisiko für die Betroffenen tragen. Falls das Vorgehen erfolgreich ist und die Gegenseite eine Geldentschädigung zahlen muss, fließt diese auf Grundlage unserer Vereinbarung mit den Betroffenen an Hate-Aid zurück, damit wir bei anderen Betroffenen wieder einspringen können.

Ich führe die erhöhte Anzahl von Frauen in der Finanzierung auf unterschiedliche Punkte zurück: Sie neigen dazu, erst dann zu uns zu kommen, wenn es um wirklich krasse Inhalte geht. Weil sie sich unsicher sind, ob es sich überhaupt um digitale Gewalt handelt oder keine Ressourcen belegen wollen, in der Annahme, anderen ginge es viel schlechter.


Gibt es bestimmte Themen, bei denen Ihr eine Zunahme an Fällen digitaler Gewalt beobachtet?

Die Klassiker sind die Klimakatastrophe, das Thema Flucht und Migration, das Thema Feminismus und Frauenrechte, in letzter Zeit die Corona-Pandemie und jetzt vermehrt auch der Ukraine-Krieg. Das sind Themen, die polarisieren und werden in der Öffentlichkeit sehr interessiert diskutiert. Wenn man sich hierzu klar positioniert, kann das relativ schnell darin umschlagen, dass man dafür attackiert wird.

© netivist.org

Wer sitzt auf der anderen Seite, wer sind die Täter*innen?

Das ist oft nicht so leicht zu sagen. Was in der Statistik des Bundeskriminalamts zum Beispiel belegt wird, ist, dass gerade dieser orchestrierte, strategisch eingesetzte Hass im Netz mehrheitlich von rechts kommt. Es geht auch selten wirklich um die angegriffenen Personen selbst, sondern um das, wofür diese Personen stehen. Mit diesem orchestrierten Hass wird versucht, diese Personen und vor allen Dingen deren Meinungen aus dem Diskurs zu verdrängen. In vielen Fällen erhalten wir aber keine Informationen darüber, ob es sich um einen männlichen Täter oder eine weibliche Täterin handelt oder was das Motiv war. Aber gerade dann, wenn die Person aus rechten Kreisen kommt, ist es vermehrt ein weißer, männlicher Täter.


In Kommentarspalten werden Diskussionen schnell hitzig. Woran merke ich, dass etwas kein doofer Spruch mehr ist, und wann sollte ich mir Unterstützung holen?

Im Zweifel würde ich sagen: immer. Wenn bei einem selbst eine rote Linie überschritten wurde, ist es zwar nicht unbedingt immer strafbar, aber für einen selbst kann eine Beratung dann schon viel bewegen. Wir können je nach Bedarf durch unsere Beratungsangebote unterstützen, manchmal auch mit der Prozesskostenfinanzierung. Außerdem helfen wir auch zum Beispiel bei der sogenannten Melderegisterauskunftssperre, damit die Adresse der betroffenen Personen nicht herausgefunden werden kann. Man kann digitale Gewalt aber auch direkt zur Anzeige bringen, denn da besteht tatsächlich ein Fehlverständnis: Ich muss nicht wissen, welcher Straftatbestand hier genau vorliegt, das ist die Aufgabe der Polizei beziehungsweise der Staatsanwaltschaft. Im Umkehrschluss ist das Schlimmste, was mir passieren kann, dass mir die Strafverfolgungsbehörden oder das Gericht sagen, das Verhalten sei nicht strafbar. Deswegen raten wir auch immer dazu, digitale Gewalt im Zweifel anzuzeigen, denn aufgrund dieser Zurückhaltung fliegt vieles unter dem Radar.


Die Straftatbestände, die bei digitaler Gewalt zur Anwendung kommen, sind die gleichen wie auch bei analoger Gewalt. Wäre ein eigener Straftatbestand für eine bessere Verfolgung wünschenswert?

Man muss das Rad nicht immer neu erfinden, nur weil etwas in einem anderen Kontext passiert, man sollte eher die vorhandenen Straftatbestände nachbessern. Ein anschauliches Beispiel: 2021 wurde der Straftatbestand, „Belohnung und Billigung von Straftaten“ geändert, zuvor war nur die sogenannte Billigung, das Gutheißen, von Straftaten, die bereits begangen worden sind, strafbar. Im Netz wird – in erster Linie – Frauen allerdings beispielsweise häufig Vergewaltigung gewünscht, die meist aber (noch) nicht begangen worden ist. Diese Bedrohung war oft nicht strafbar, da sie noch nicht konkret genug war. Der Gesetzgeber hat hier, natürlich auf sehr viel Druck aus der Zivilgesellschaft hin, eine Lücke im Strafrecht gesehen und nachgebessert, sodass nun auch Vergewaltigungswünsche strafbar sein können.

Sehr wichtig wäre also die Sensibilisierung der Strafverfolgungsbehörden und Justiz hierfür. Nehmen wir das Beispiel der Beleidigung nochmals – hier gibt es immer noch die Vorstellung, dass eine Beleidigung im Privaten passiert. Der Klassiker: Der Nachbar beschimpft einen über den Zaun hinweg. Im Netz herrschen aber ganz andere Dynamiken. Eine Beleidigung wird öffentlich geäußert und bleibt stehen, frei zugänglich. Strafverfolgungsbehörden und Justiz müssen verstehen, dass eine Beleidigung im privaten Bereich nicht das gleiche ist wie eine Beleidigung, die online getätigt wird.

© researchoutreach.org


In den vergangenen Jahren sind prominente Personen wie Renate Künast oder Luisa Neubauer rechtlich erfolgreich gegen digitale Gewalt vorgegangen und das auch sehr medienwirksam. Wie viel Erfolg kann ich mir erhoffen, wenn ich als Durchschnittsbürgerin etwas zur Anzeige bringen möchte?

Für ein Strafverfahren ist es ein komplett irrelevanter Faktor, ob man eine Person des öffentlichen Lebens ist, ebenso für ein Zivilverfahren. Wir unterstützen mit unserer Prozesskostenfinanzierung wesentlich mehr Personen, die nicht im öffentlichen Leben stehen. Nur möchten die oft nicht, dass das öffentlich kommuniziert wird, um etwa eine weitere Hasswelle zu vermeiden. Deshalb bieten sich gerade Personen wie Renate Künast oder auch Luisa Neubauer für öffentlichkeitswirksame Prozesse an. Sie stehen so oder so in der Öffentlichkeit und kennen das Risiko.

Ansonsten sind die relevanteren Aspekte für die Erfolgsaussichten eher: Wer sind die Täter*innen, die mich angreifen, agieren sie unter Klarnamen oder anonym? Auf welchen Plattformen befinden wir uns? Gerade wenn wir zum Beispiel von bildbasierter Gewalt sprechen, passiert sehr viel auf Pornoplattformen. Pornoplattformen sind per se schwieriger zu greifen, weil sie oft im Ausland sitzen und nicht unter die gleichen gesetzlichen Regelungen fallen wie große Social-Media-Plattformen. Insgesamt kommt es also viel mehr auf die einzelnen Details im Fall an, um zu beurteilen, ob er erfolgsversprechend ist.


Auch Social-Media-Plattformen tun sich oft schwer in der Kooperation mit Strafverfolgungsbehörden. Ist die Anonymität da überhaupt noch zeitgemäß? Würde eine Klarnamenpflicht etwas bringen?

Wir haben eine klare Position gegen die Klarnamenpflicht. Erst einmal ist es ein Trugschluss zu glauben, dass durch eine Klarnamenpflicht weniger Hass verbreitet wird. Es gibt sehr viele Leute, die unter Klarnamen agieren. Zweitens: Die, die wirklich bedrohen wollen, hätten technisch trotzdem noch die Möglichkeit, sich zu anonymisieren oder zu pseudonymisieren. Eine solche Pflicht trifft außerdem nicht nur die potenziellen Täter*innen, sondern auch die Opfer. Täter*innen bekommen mit dem Klarnamen der Betroffenen dann zusätzliche Informationen.

Es gibt außerdem wichtige Gründe, warum Anonymität im Internet zu gewährleisten ist – seien es beispielsweise investigative Recherchen oder die Arbeit politischer Opposition, die sonst im Land unterdrückt wird. Aber es gibt eben auch Zwischenwege, und dafür plädieren wir: Man kann zum Beispiel als Plattform sagen, dass kein Klarname oder Bild nötig ist, aber eine Telefonnummer. Oder die Plattformen könnten verpflichtet werden, anlassfallbezogene IP-Adressen einzufrieren. Es gibt also durchaus Optionen, die sowohl ein bestimmtes Maß an Anonymität gewährleisten, aber gleichzeitig eben auch Betroffenen Abhilfe schaffen.


Bei der Polizei muss noch viel passieren, bei der Gesetzgebung auch. Welche ist die größte Baustelle?

Sicherlich eine der größten Baustellen ist immer noch die Auffassung, dass digitale Gewalt keine reale Gewalt sei. Es muss zum Umdenken kommen, wir müssen uns fragen: Was bedeutet das eigentlich für uns als Gesellschaft, wenn wir nichts dagegen tun? Wo wir dann überall ansetzen müssen, das sind Detailfragen: Wir müssen im Strafrecht nachbessern; wir müssen schauen, dass Strafverfolgung effektiver und effizienter wird; wir müssen schauen, dass die zivilrechtlichen Möglichkeiten niedrigschwelliger werden – Dinge wie Zeug*innenschutz beispielsweise, damit ich nicht meine private Adresse angeben muss, wenn ich eine Strafanzeige stelle. Oder dass es erleichtert wird, eine Melderegisterauskunftssperre zu erlangen. Hinzu kommt ein Ausbau an Beratungsorganisation. Derzeit ist Hate-Aid noch eine der wenigen Stellen. Wir können uns nicht darüber beklagen, dass wir zu wenige Anfragen hätten – ganz im Gegenteil. Die Strukturen müssen unbedingt ausgeweitet werden, sonst ist die Masse an Fällen auf Dauer nicht tragbar.

Das Interview führte Natascha Holstein, Zeitgeister-Redakteurin.
Copyright: Text: Goethe-Institut, Natascha Holstein. Dieser Text ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz.
Creative Commons Lizenzvertrag
Mai 2022


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