Karin und Slava in Sibirien | Foto: Privatarchiv
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Die Menschen kommen, weil sie Arbeit suchen, weil sie ein ruhiges Leben führen oder sozial abgesichert sein wollen. Aber was bewegt manche Deutsche dazu, selbst auszuwandern? Und wie ergeht es ihnen in Ländern, aus denen andere Menschen oft fliehen?„Slava! Slava!“, schreit Karin ins Telefon, doch die Satellitenverbindung bricht immer wieder ab. „Bist du gesund?“, fragt Karin unermüdlich. „Mach dir keine Sorgen, alles normalno“, erklingt die Stimme ihres Mannes durch das Knistern. Sie klingt, als käme sie aus dem Jenseits. Doch in Wirklichkeit kommt sie aus einem Ort namens Srednjaja Oljokma, der 9 000 Kilometer östlich liegt.Ich blicke auf die Weltkarte und wundere mich, wie es die zierliche Karin bis dahin geschafft hat. Die Reise von Deutschland nach Srednjaja Oljokma dauert mindestens fünf Tage.„Am besten, man fliegt über Moskau nach Irkutsk“, erklärt mir Karin. „Dort übernachtet man und fährt am nächsten Morgen mit der Transsibirischen Eisenbahn weiter – 1700 Kilometer in 33 Stunden. Nach Mogotscha, in der Region Transbaikalien. Von Mogotscha aus führt eine knapp 100 Kilometer lange Autotrasse nördlich in Richtung Tupik. Die letzte Etappe der Reise ist 300 Kilometer lang und dauert ein bis vier Tage, je nach Wasserstand. In der eisfreien Zeit ist Srednjaja Oljokma nur per Boot zu erreichen: von Süden aus auf dem Fluss Tungir oder von Norden aus auf dem Fluss Oljokma.“Karin ist Buddhistin, sie interessiert sich für Kultur und Philosophie. Slava ist Jäger, er ist praktisch veranlagt und kümmert sich um die lebensnotwendigen Dinge. Doch obwohl sie so unterschiedlich sind, schätzen und lieben sie einander.Karin ist Buddhistin, sie interessiert sich für Kultur und Philosophie. Slava ist Jäger, er ist praktisch veranlagt und kümmert sich um die lebensnotwendigen Dinge. Doch obwohl sie so unterschiedlich sind, schätzen und lieben sie einander. | Foto: Privatarchiv
Karin Haß zog vor 14 Jahren aus Hamburg in das mitten in der Taiga liegende, nur 60 Einwohner zählende Dorf Srednjaja Oljokma. Das Pech wollte es, dass sie vor etwa einem Jahr zu Besuch nach Deutschland kam, gerade als die Pandemie ausbrach. Und jetzt weiß sie nicht, wie sie wieder nach Hause kommen soll.„Zum ersten Mal lernte ich Sibirien 1998 während einer Faltboottour kennen“, erinnert sich Karin. „Zuvor war ich bereits in Alaska, Kanada, Polen, Finnland und der Mongolei gewesen. Ich liebe die Stille, die unberührte Natur, das Schlafen im Zelt und das Knistern des Lagerfeuers. Nein, Angst habe ich nicht. Ich fühle mich wohl, wenn ich allein unterwegs bin.“Während ihrer zweiten Reise nach Sibirien, im Jahr 2003, erreicht Karin schließlich das kleine Dorf Srednjaja Oljokma, in das sie sich sofort verliebt. Slave ist zu jener Zeit noch nicht dort, es gibt nur die Holzhütten, die herzlichen Menschen und um sie herum die geheimnisvolle Taiga. Karin beschließt, das einfache und fremdartige Leben der dort beheimateten Ewenken näher kennenzulernen. Doch zunächst kehrt sie nach Hamburg zurück und stellt einen Antrag auf Frührente. Zwei Jahre später verabschiedet sie sich von ihrer erwachsenen Tochter und bricht auf nach Srednjaja Oljokma. „Ich mietete mir für neun Monate eine Hütte im Dorf“, erzählt Karin. „Ich hätte damals nicht gedacht, dass ich noch länger dort bleiben würde.“Während ihrer zweiten Reise nach Sibirien, im Jahr 2003, erreicht Karin das kleine Dorf Srednjaja Oljokma, in das sie sich sofort verliebt. | Foto: Privatarchiv
Karin freundet sich mit den einheimischen Ewenken an, geht mit ihnen Pilze oder Beeren suchen. Allmählich erinnert sie sich an die russischen Wörter, die sie als Kind in der Schule gelernt hat. Und nach und nach – wobei sich dieser Prozess deutlich beschleunigt, als sie Slava kennenlernt – verliebt sie sich in die russische Seele.„In Deutschland muss alles rational begründet sein“, seufzt Karin. „In Russland regieren die Emotionen und das Herz.“Ebendiese gewinnen auch in Karin die Oberhand, als sie Slava kennenlernt. „Wir zogen zusammen in eine Holzhütte, die uns von der lokalen Administration zur kostenlosen Pacht überlassen wurde“, erzählt Karin. „Die einzige Auflage ist, dass wir die Hütte instand halten: Wir müssen das Dach reparieren, wenn es undicht ist, oder den Ofen, wenn er nicht funktioniert. Unsere Hütte war in einem sehr schlechten Zustand, wir hatten also alle Hände voll zu tun. Ja, ich habe viel dort gelernt, vor allem, als die Jagdsaison begann und mein Mann für mehrere Tage in der Taiga verschwand. Die Umstellung war nicht wirklich schwer, ich wusste schließlich, worauf ich mich einlasse. Es gab allerdings etwas, das Slava vor mir verheimlicht hatte“, erzählt Karin weiter. „Er hatte mir nicht gesagt, dass er Alkoholiker war. Als die Sache ans Licht kam, stellte ich ihn vor die Wahl: entweder der Wodka oder ich. Also machte er eine Entziehungskur und ist seitdem trocken. Er rührt nicht einmal Pralinen an, die mit Alkohol gefüllt sind. Ja, wir beide haben uns sehr verändert und mussten viele Kompromisse eingehen, damit unsere Beziehung funktioniert.“Srednjaja Oljokma hat nur 60 Einwohner. | Foto: Privatarchiv
Karin ist Buddhistin, sie interessiert sich für Kultur und Philosophie. Slava ist Jäger, er ist praktisch veranlagt und kümmert sich um die lebensnotwendigen Dinge. Doch obwohl sie so unterschiedlich sind, schätzen und lieben sie einander.
„Ich will ihn nicht verändern, und er mich nicht“, sagt Karin. „Selbstverständlich haben wir uns anfangs auch gestritten, aber im Grunde nur über ganz banale Sachen. Ich konnte einfach nicht verstehen, wie man bis zehn Uhr schlafen kann, wenn um einen herum so viel zu tun ist. Ich stand jeden Morgen um sieben Uhr auf und schuftete bis zum Abend. Und alle um mich herum waren ausgeschlafen und entspannt und fanden sogar noch Zeit, um miteinander Tee zu trinken. Ich habe erst Jahre später gelernt, nicht alles so genau zu nehmen.“Slava wiederum musste lernen, dass Karin vieles selbst entscheiden will und eine eigene Meinung hat. Und wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann bleibt es dabei. Einmal bat sie ihn zum Beispiel, winddichte und schneegeschützte Hütten für ihre Hunde zu bauen. Slava schaute sie nur verwundert an, denn sibirische Hunde sind solche Annehmlichkeiten nicht gewöhnt. Also wartete Karin ein paar Tage, und sobald Slava zur Jagd gegangen war, baute sie selbst eine solche Hundehütte. Slava war schwer beeindruckt.Karin backt selbst Brot und Kuchen. Sie kümmert sich auch um den Garten, in dem sie Zucchini, Auberginen, Paprika, Tomaten und Kürbisse anbaut. Slava angelt, jagt und kann alles im Haus reparieren. Sie sind unabhängig. Sie müssen es sein. Der nächste Laden ist weit weg und wird nicht immer beliefert.Karin kümmert sich um den Garten. Sie backt selbst auch Brot und Kuchen. | Foto: Privatarchiv
„Ich habe keine großen Ansprüche“, sagt Karin von sich selbst. „Ich habe nie nach Luxus, einem großen Haus und Designermöbeln gestrebt. Die frische Luft, der reißende Fluss, die wilde Taiga und die kalten, schneereichen Winter mit bis zu minus 45 Grad sind mir mehr wert als irgendwelche Annehmlichkeiten. Außerdem fühle ich mich hier frei. Niemand sagt mir, dass ich irgendwo nicht hingehen darf, weil es Privatgelände ist. Der Arm der Politik reicht nicht bis hierher. Und anders als in Deutschland gibt sich hier niemand der Illusion hin, dass Politiker die Wahrheit sagen oder nur das Beste für ihr Land wollen. Die Menschen hier kommen allein zurecht und unterstützen einander. Hier lässt niemand einen Betrunkenen einfach im Schnee liegen, man lädt ihn zu sich nach Hause ein, macht ihm einen Tee und bietet ihm etwas zu essen an. Und wenn du hier Freunde findest, sind es Freunde fürs Leben. Du musst nicht vorher anrufen, wenn du sie besuchen willst, und fragen, ob sie Zeit für dich haben. Selbstverständlich bin ich zwischen zwei Welten hin- und hergerissen: Im Westen leben meine Tochter, meine Enkel und meine Freunde, und im Osten mein Mann und ein gutes Leben. Deshalb werde ich, so lang es geht, zwischen Russland und Deutschland hin- und herreisen.“ES GIBT NUR EINES, DAS ICH BEREUE!Didier Schmallong hat Deutschland vor 20 Jahren verlassen, und es gibt nichts, das ihn in seine alte Heimat zurückzieht. „In Essaouira, einer alten Berberstadt an der marokkanischen Atlantikküste, habe ich etwas gefunden, das es in Europa nicht mehr gibt: Ruhe, Muße und ganz normale Menschlichkeit“, erzählt Didier. „Die Menschen hier begegnen einander mit einem Lächeln, und ihre Beziehungen zueinander sind sehr intensiv und aufrichtig. Ich finde es wunderbar, dass in den hiesigen Familien noch immer mehrere Generationen zusammenleben und niemand im Alter allein gelassen wird.“Didier versinkt in Gedanken und schaut in Richtung des Ozeans. Das Thermometer zeigt 15 Grad. Ein leichter Wind bewegt die Blätter des im Garten wachsenden Arganbaums.„In Hamburg war ich in der Medienbranche tätig und war ständig im Stress“, erklärt er anschließend. „Als meine Mutter starb, spürte ich, dass ich in meinem Leben etwas ändern muss. Ich ging in ein Reisebüro, schloss die Augen und fuhr mit dem Finger über die Weltkarte. Schließlich blieb ich bei dem Namen Agadir hängen. Ich wusste damals nicht einmal genau, wo Marokko genau lag, aber ich sah es als einen Wink des Schicksals. Nach vier Monaten in Agadir und einem Jahr in Taghazout entdeckte ich Essaouira. Und jetzt bin ich hier zu Hause.“Didier Schmallong hat Deutschland vor 20 Jahren verlassen, und es gibt nichts, das ihn in seine alte Heimat zurückzieht. Didier Schmallong hat Deutschland vor 20 Jahren verlassen, und es gibt nichts, das ihn in seine alte Heimat zurückzieht. | Foto: Privatarchiv
Ein Jahr lang führte Didier ein Restaurant, anschließend gründete er eine Baufirma. Seit kurzer Zeit erhält er auch eine deutsche Rente, die jedoch nur klein ist, weil er nicht lange genug in Deutschland gearbeitet hat. In seinem Blog lese ich jedoch, dass man in Essaouira für 800 Euro im Monat wie ein Prinz oder eine Prinzessin leben kann.„Man kann hier für 250 Euro im Monat eine wunderschöne 100-m²-Wohnung mieten“, erklärt Didier. „Für Strom und Wasser zahlt man etwa 30 Euro. Jeans, die in Deutschland 300 Euro kosten, bekommt man hier für 20 Euro. Und Lebensmittel? Für ein Kilo Tomaten oder Kartoffeln zahle ich 40 Cent. Und alles ist unbehandelt! Ein Kilo frisches Lammfleisch kostet 6 Euro, Fisch, Krabben und Tintenfisch 3,80 Euro, Garnelen 6 Euro. Alles direkt aus dem Atlantik. Ein Arztbesuch kostet etwas über 20 Euro. Ja, in Marokko lässt es sich leben!“Doch die niedrigen Preise können Neuankömmlingen auch zum Verhängnis werden, weil sie nicht selten alle Vorsicht über Bord werfen. Attraktive Grundstücke und Häuser sind bei Einwanderern heiß begehrt.„In Deutschland würden diese Menschen einen Vertrag zehnmal durchlesen, bevor sie ihn unterschreiben. Hier haben sie das Gefühl, sofort zuschnappen zu müssen, weil sich eine solche Chance vielleicht nie wieder ergibt“, erzählt Didier. „Und hinterher tauchen Probleme auf, weil mit dem Haus doch nicht alles so ist, wie sie es sich vorgestellt haben.“Didier weiß, wovon er spricht. In seiner Freizeit hilft er Neuankömmlingen bei Problemen mit der nordafrikanischen Bürokratie. Er hat es leichter, weil er alle Beamten schon persönlich kennt. Er führt deutsche Einwanderer in die Geheimnisse des marokkanischen Alltags ein, hilft ihnen bei der Beantragung ihrer Aufenthaltsgenehmigung und zeigt ihnen die besten Geschäfte und Restaurants.“In den hiesigen Familien leben mehrere Generationen zusammen. Niemand wird im Alter allein gelassen. | Foto: Privatarchiv
„Warum immer mehr Deutsche auswandern?“, fragt sich Didier. „Ich denke, dass viele hierherkommen, weil sie nur eine niedrige Rente beziehen. Wenn jemand in Deutschland 1200 Euro Rente bekommt und 800 Euro Miete zahlt, dann fällt es ihm schwer, mit dem, was übrig bleibt, über die Runden zu kommen. Und in Marokko kann er mit diesem Geld ein gutes Leben führen. Es hängt allein von seiner Einstellung oder vielmehr seinem Charakter ab, ob er sich in seiner neuen Heimat zurechtfindet. Die einen passen sich ihrer Umgebung an, die anderen kochen weiterhin ihr deutsches Süppchen. Ich sehe hier viele Einwanderer, die tagtäglich mit den gleichen Leuten in den gleichen Cafés zusammensitzen, die gleichen europäischen Gerichte essen und mit einer unverständlichen Arroganz auf die Einheimischen herabblicken. Mit denen habe ich nichts zu tun. Die Berber sind wie meine Familie, und ich musste keine Kompromisse eingehen, um hier heimisch zu werden. Ich war interessiert und offen für neue Erfahrungen. Vielleicht deshalb, weil ich Menschen einfach mag. Und wenn ich etwas bereue, dann nur, dass ich nicht hier geboren bin. Dadurch habe ich so viele Jahre verloren!“, erklärt Didier lachend.VIER JAHRESZEITEN: WINTERAuch der 37-jährigen Katharina Koch-Hartke kam nie der Gedanke, nach Deutschland zurückzukehren, als ihr Tourismus-Unternehmen in Nordschweden in Insolvenz ging. Wie sollte sie auch ihre 29 Hunde mitnehmen?Es ist ein sonniger, aber frostiger Tag. In der Nacht fällt die Temperatur auf minus 24 Grad. Katharina lädt ihren Geländewagen und ihren Anhänger mit den Hundetransportern aus. Sie kommt gerade aus den nahe gelegenen Bergen zurück, wo sie mit ihren Schlittenhunden trainiert hat. In diesem Jahr nimmt sie nicht an Rennen teil, aber sie träumt davon, in ein oder zwei Jahren mit ihren Hunden in der 1200-Kilometer-Variante des Hundeschlittenrennens Finnmarksløpet in Norwegen zu starten.„2017 haben wir bereits die kürzere Distanz bewältigt, das waren 500 Kilometer“, erzählt Katharina. „Es war ein unglaubliches Erlebnis. Du fährst fünf, sechs Tage mit dem Hundeschlitten durch die verschneite Einöde, schläfst nachts vielleicht eine Stunde im Schlafsack, eng an deine Hunde gekuschelt, und anschließend fährst du weiter, immer weiter.“Der 37-jährigen Katharina Koch-Hartke kam nie der Gedanke, nach Deutschland zurückzukehren. | Foto: Privatarchiv
Im Augenblick weiß Katharina jedoch nicht, ob sie ihre finanziellen Probleme überwinden und noch einmal am Finnmarksløpet, in dem jedes Jahr circa 160 Gespanne mit 1500 Hunden starten, teilnehmen kann.„Das Startgeld beträgt 14 000 norwegische Kronen [circa 1400 Euro, Anm. d. Red.], ich weiß nicht, ob ich mir das jemals wieder leisten kann“, seufzt sie.2007 denkt sich Katharina, dass das Leben zu kurz sei, um alles auf später zu verschieben. Also kündigt sie kurzerhand ihre Stelle in einer Zahnarztpraxis, packt ihren Rucksack und kehrt Deutschland den Rücken. Sie hält erst wieder in Nordschweden an – nördlich des Polarkreises, zwischen Gällivare und Kiruna, wo sie zwei Jahre auf einer Husky-Farm arbeitet. Und eben dort erlebt sie die niedrigsten Temperaturen – bis minus 46 Grad – und die leidenschaftlichsten Gefühle, die einem dabei helfen, auch den kältesten Winter zu überstehen.Katharina und ihre Partnerin Johanna heiraten und ziehen gemeinsam in ein siebzig Jahre altes, typisch schwedisches Holzhaus. Um das Haus herum errichten sie einige Dutzend Hundehütten.Der kleine Ort Miekojärvi, in dem sie leben, hat nur 19 Einwohner, das Durchschnittsalter ihrer Nachbarn beträgt über 50 Jahre. Vielleicht kann man deshalb hier ein Haus, noch dazu in gutem Zustand, bereits für 35 000 bis 40 000 Euro erwerben. In Deutschland müsste man zehnmal so viel bezahlen.Der kleine Ort Miekojärvi, in dem sie leben, hat nur 19 Einwohner, das Durchschnittsalter ihrer Nachbarn beträgt über 50 Jahre.Der kleine Ort Miekojärvi, in dem sie leben, hat nur 19 Einwohner, das Durchschnittsalter ihrer Nachbarn beträgt über 50 Jahre. | Foto: Privatarchiv
„Warum wir uns entschieden haben, in Nordschweden zu bleiben?“, wiederholt Katharina meine Frage. „Aus Liebe zur Natur und zu den sehr unterschiedlichen Jahreszeiten. Wegen der Ruhe und wegen der Menschen hier. Sie sind ehrlich und bodenständig, und die Familie ist ihnen wichtiger als beruflicher Erfolg.“Bevor sie 2009 ihr Unternehmen gründeten, bereiteten sich Katharina und Johanna gründlich vor, indem sie Erfahrungen als Wanderführerinnen sammelten. Dann starteten sie durch. Ihr Unternehmen bot Hundeschlittentouren, Übernachtungen und Verpflegung an. Sobald das Geschäft gut lief, tätigten sie einige Investitionen und nahmen einen größeren Kredit auf. Dann brach die Pandemie aus.„Sämtliche Touren mussten abgesagt werden, und unsere Einkünfte schmolzen schnell dahin. Wir konnten die Raten für unseren Kredit nicht mehr bezahlen und mussten schließlich Konkurs anmelden“, seufzt Katharina.Alle ihre Anschaffungen wurden in einer vom Insolvenzverwalter organisierten Online-Auktion versteigert. Dann kamen fremde Leute auf ihr Grundstück, um die ersteigerten Objekte abzuholen. Am meisten schmerzte es Katharina und Johanna, als sie ihnen die Hundeschlitten wegnahmen und sogar ihre Sauna abbauten.„In Deutschland würde ein Unternehmen wie das unsere staatliche Hilfe erhalten“, sagt Katharina. „Aber in Schweden verfolgt man eine andere Strategie: Man hilft den Großen und nicht den Kleinen. Aber gut, wir wussten, welches Risiko wir eingehen, also haben wir auch niemandem etwas vorzuwerfen.“„Und was wollt ihr jetzt machen?“, frage ich.Katharina schweigt. Schließlich erklärt sie, dass sie nach dem Ende der Pandemie versuchen wollen, kleine, exklusive Touren für Menschen anzubieten, denen der Massentourismus nicht zusagt. Außerdem sind sie eine Zusammenarbeit mit einer Futtermittelfirma eingegangen und hoffen auf eine Provision aus den Verkäufen. Sie machen Fotos, Filme und halten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Aber das alles reicht nicht, um ihre 29 Vierbeiner zu versorgen. Deshalb haben sie auf ihrer Internetseite einen Spendenaufruf gestartet. Nicht für sich selbst, sondern für ihre Hunde.Allein das Startgeld für das Finnmarksløpet beträgt 14 000 norwegische Kronen. | Foto: Privatarchiv
DAS WICHTIGSTE IST DIE FREIHEIT!Bevor der 36-jährige Dominique im Herbst des vergangenen Jahres in das Fischerdorf Amed in der Nähe des Agung, des größten Vulkans auf Bali zog, bereitete er sich sorgfältig vor.„In den letzten zehn Jahren habe ich jeden Cent zur Seite gelegt und gewinnbringend investiert“, sagt er. „Ich hätte selbstverständlich auch darauf hoffen können, dass ich auf Bali sofort einen Job finde und dass alles schon irgendwie klappt. Doch das Bewusstsein, dass ich finanziell abgesichert bin, gibt mir ein Gefühl von Freiheit. Ich kann in Ruhe darüber nachdenken, was ich wirklich will.“Während seines Universitätsstudiums (unter anderem Philologie, Philosophie und Übersetzungswissenschaften) verdient sich Dominique an den Wochenenden an einem Gemüsestand und in der Woche in einem englischen Pub, als Kellner, Küchenhilfe und Putzkraft, etwas hinzu.„Zusätzlich zu meinem Lohn erhielt ich auch eine Menge Trinkgeld, das ich gut anlegte“, erzählt Dominique.Während des Studiums lebt er mit seiner Freundin zusammen, nach ihrem Abschluss wollen sie sich einen guten Job suchen und in eine größere Wohnung ziehen.„Und plötzlich wurde mir klar, dass ich allmählich ersticke“, erinnert sich Dominique. „Ich sah mir meine Bekannten an, die alle lebten, als hätte man sie programmiert: Schule, Arbeit, Kredit, Haus und Kind. Sie machten Karriere in großen Unternehmen und wären ständig müde und ausgebrannt.“Also packt Dominique seinen Rucksack und fliegt nach Asien. Nach Kambodscha, Vietnam und Indonesien. Am besten gefällt es ihm auf Bali, wo er schließlich sesshaft wird. Sein Haus in Amed – 45 Quadratmeter groß, mit Schlafzimmer, Wohnzimmer Küche, Badezimmer, Terrasse und einem Garten, in dem Bananen- und Papayabäume wachsen – liegt nur fünf Minuten vom Strand entfernt.Bevor der 36-jährige Dominique im Herbst des vergangenen Jahres in das Fischerdorf Amed in der Nähe des Agung, des größten Vulkans auf Bali zog, bereitete er sich sorgfältig vor. | Foto: Privatarchiv
„Ich zahle 200 Euro Miete“, sagt Dominique. „Strom kaufe ich im Supermarkt, ich entscheide selbst, wie viel ich brauche. Das Wasser ist staatlich subventioniert, außerdem haben wir hier eigene Brunnen. Und die Regenzeit ist gerade erst vorbei. Es gibt auch für jeden auf der Insel genug Wasser, seitdem die großen Hotels geschlossen haben und es nicht mehr für ihre Duschen, Jacuzzis und Swimmingpools abzweigen.“Im Amed steht Dominique um sechs Uhr morgens auf. Bis um acht Uhr macht er Yoga, anschließend geht er schwimmen. Dann arbeitet er bis um zwölf am Computer, übersetzt und lernt. Nach dem Mittagessen geht er einkaufen, fährt mit seinem Motorroller durch die Gegend oder liest. Um 15 Uhr geht er ins Fitnessstudio. Abends macht er sich etwas zu essen und schaut sich Filme an. Um 21 Uhr geht er schlafen.“„Ich würde selbstverständlich auch gerne arbeiten. Ich habe vor, Yoga- und Ernährungskurse anbieten, aber ich warte noch auf eine Arbeitserlaubnis“, fügt Dominique hinzu.„Und fühlst du dich nicht einsam?“, frage ich.„Ich bin gern allein“, lacht Dominique. „Wenn ich Bekannte treffen will, gehe ich ins Café – dort sitzt immer irgendjemand. Zweimal in der Woche treffe ich mich auch mit einem Indonesisch-Lehrer. Ich würde mich gerne mit den Einheimischen in ihrer Landessprache unterhalten. Vor allem mit meinen Nachbarn, mit denen ich regelmäßig Schach spiele. Ich versuche, ihnen meine Wertschätzung zu zeigen, aber ich würde es gerne auch mit Worten tun.“Erdmute Sobaszek spricht so gut und fehlerfrei Polnisch, als wäre sie in Polen geboren und aufgewachsen und nicht in der ehemaligen DDR. Ihre Freunde erzählen lachend, dass sie einst Polnisch lernte, indem sie sich das Gedicht „Eine Begräbnis-Rhapsodie zum Gedenken an General Bem“ von Cyprian Kamil Norwid einprägte. Ich versuche, mir vorzustellen, wie die 20-jährige Erdmute die Verse aus ihrem polnischen Gedichtband rezitiert und sich dabei fast die Zunge bricht.„Das stimmt schon“, lacht Erdmute. „Anfangs war es schon sehr frustrierend, vor allem der polnische Satzbau ist völlig anders als der deutsche. Es brauchte viel Zeit, bis ich das begriff – und viel Schweiß und Tränen.“Erdmute Sobaszek | Foto: © Betty Schiel
Am liebsten hörte Erdmute jedoch die Lieder von Ewa Demarczyk.„Sie hat eine messerscharfe Diktion“, sagt sie. Dann erklärt sie weiter: „Manchmal ist es eben so – wahrscheinlich hängt das mit dem Unterbewusstsein und den Gefühlen zusammen –, dass man eine Sprache einfach so aufsaugt. Vielleicht konnte ich deshalb schon nach zwei, drei Monaten Polnisch sprechen.“Aber der Reihe nach. Am Anfang steht die düstere und bedrückende DDR-Wirklichkeit der 70er-Jahre.„Polen erschien mir damals als eine Oase der Freiheit“, erzählt Erdmute. „Ich fuhr per Anhalter in das damalige sozialistische Bruderland und fühlte mich dort auf Anhieb wohl. Die Menschen waren herzlich und offen für alles, was anders war. Anschließend kehrte ich in die DDR zurück, wo jeder den anderen denunzierte, wo Anderssein nicht geduldet wurde und wo man mich wegen ideologischer Bedenken nicht zum Germanistikstudium zuließ.“Man weiß nicht, wie Erdmutes Leben verlaufen wäre, wenn ihr Bruder nicht so viele Bekannte in Polen gehabt hätte. Mal besuchte er sie, mal kamen sie zu ihm nach Berlin. Eines Tages steht auch Wacław, der zu jener Zeit Geschichte an Universität Warschau studiert, vor der Tür. Er klopft, Erdmute öffnet ihm. Es ist das Jahr 1976.„Die Entscheidung, Deutschland zu verlassen und zu Wacław nach Polen zu ziehen, fiel mir nicht schwer“, erzählt Erdmute. Und die Polen empfingen mich mit offenen Armen. Ich war ihnen dankbar dafür, denn wie viele Ostdeutsche schämte auch ich mich für mein Land. In der DDR waren wir mit dem Gefühl der Schuld aufgewachsen. Die Lehrer schleppten uns in das Museum für Deutsche Geschichte und sagten: »Seht euch das an!«. Dort gab es Bilder aus Auschwitz, Lampenschirme aus Menschenhaut und Filme, die ich meinen Kindern nie zeigen würde.“Erdmute und Wacław Sobaszek während eines Konzerts | Foto: © Martin Rada
Wacław schließt sein Studium in Warschau ab und zieht gemeinsam mit Erdmute nach Olsztyn, wo er sich der Künstlergruppe Pracownia anschließt. Erdmute macht ihr polnisches Abitur und beginnt ein Fernstudium im Bereich Kulturpädagogik.„Nach und nach wuchs ich in die Künstlergruppe hinein, nahm an Diskussionen und Workshops teil“, erzählt sie. „Doch dann wurde 1981 das Kriegsrecht verhängt, und unserer Gruppe wurde jegliche Tätigkeit untersagt. Wir hatten uns bereits vorher mit dem Gedanken beschäftigt, aufs Land zu ziehen und unsere künstlerische Tätigkeit dort fortzusetzen. Und so kam es dann auch. 1982 fanden Wacław und ich einen verlassenen Bauernhof in dem Dorf Węgajty in der Nähe von Olsztyn.“Es ist das Jahr 1982, und es herrscht immer noch das Kriegsrecht. Wacław und Erdmute leben zwei Kilometer vom Dorfkern und vier Kilometer vom nächsten Laden entfernt. Sie haben zwei kleine Kinder. Und ein Fahrrad. Das nächste Telefon steht beim Ortsvorsteher.„Ja, das war eine schwierige Zeit“, sagt Erdmute lächelnd. „Aber ich kam nie auf den Gedanken, nach Deutschland zurückzukehren.“Mit Hilfe ihrer Freunde bauen sie ein leer stehendes Nebengebäude in ein Theater um: Sie setzen Fenster ein, legen einen Holzboden und installieren einen Ofen.„Tagsüber war ich mit meinen Kindern und meinem Studium beschäftigt und abends machte ich Theater und Musik“, erinnert sich Erdmute mit einem Lächeln an jene Jahre. „Das war unsere Allnacht – eine romantische Zeit.“1986 stoßen Małgorzata und Wolfgang Niklaus – wie es der Zufall will, ebenfalls ein deutsch-polnisches Paar – zu ihnen. Gemeinsam gründen sie das Dorftheater Węgajty – aus einer Faszination für Folklore, ethnische Wurzeln und ländliche Tradition heraus.„Das war eine wunderbare Zeit“, erzählt Erdmute. „Wir lernten alte Volkslieder und Bräuche, die wie Einschlüsse im Bernstein überdauert hatten, wir besuchten andere Dörfer, gingen von Tür zu Tür und sangen. Dann kamen die Jahre der Transformation, und das Dorf wurde von einem jungen, aggressiven Kapitalismus überflutet. Langsam aber systematisch wurde der Dorfzusammenhalt zerstört. Wo man uns einst mit offenen Armen empfangen hatte, trafen wir nun auf eine gewisse Zurückhaltung oder, noch schlimmer, auf neu errichtete Mauern und hohe Metalltore. Deshalb haben unsere künstlerischen Aktionen auch so viel mit Gemeinschaft zu tun. Und mit Ökologie.“1986 stoßen Małgorzata und Wolfgang Niklaus – wie es der Zufall will, ebenfalls ein deutsch-polnisches Paar – zu ihnen. Gemeinsam gründen sie das Dorftheater Węgajty – aus einer Faszination für Folklore, ethnische Wurzeln und ländliche Tradition heraus. | Foto: © Privatarchiv und Eugenia Wasylczenko
Erdmute lacht darüber, dass sie nicht über sich selbst sprechen kann, ohne über das Theater zu sprechen.„Ich stehe morgens auf und bin mit meinen Gedanken sofort bei unserer künstlerischen Arbeit. Und wenn ich mich abends ins Bett lege, geht der Denkprozess immer noch weiter. So geht es den ganzen Tag. Vor allem seit unsere beiden Söhne ausgezogen sind. Ja, beide sind nach Deutschland gezogen. Das ist schon irgendwie lustig, weil ich selbst einst »in eine bessere Welt« ausgewandert bin, und jetzt haben sie es mir nachgemacht, nur eben in die andere Richtung. Der eine hat sich bereits in Deutschland eingelebt, er hat Arbeit, eine Partnerin und einen Sohn. Der andere lebt gewissermaßen in der Schwebe – er wohnt in Berlin, ist jedoch mit der Stettiner Kunstakademie verbunden. Und ich? Wenn ich nach Deutschland fahre, fühle ich mich dort manchmal wie eine Ausländerin.“Als Erdmute zum ersten Mal West-Berlin besuchte, bekam sie es mit der Angst zu tun. Als sie in den Ostteil der Stadt zurückkehren wollte, bemerkte sie plötzlich, dass sie sich verlaufen hatte.„Ich wandte mich an eine Frau mit Kopftuch, um sie nach dem Weg zu fragen. Ich dachte mir: Die ist auch nicht von hier, da ist es nicht ganz so peinlich. Selbst der Fahrkartenautomat stellte mich vor unlösbare Probleme! Das war eine völlig idiotische Situation, ich sprach schließlich Deutsch“, erzählt Erdmute. „Mit meinem Deutsch ist das übrigens auch so eine Sache. Wie etwas, das länger nicht in Gebrauch war, ist es mit der Zeit ein wenig schwergängig und rostig geworden. Als ich kürzlich Gedichte der deutschen Lyrikerin jüdischer Herkunft Gertrud Kolmar übersetzte, stellte sich heraus, dass es mir leichter fällt, vom Deutschen ins Polnische zu übersetzen als umgekehrt. Ja, das Übersetzen bereitet mir große Freude, es ermöglicht es mir, meine beiden »Ichs« miteinander zu verbinden: mein heutiges Ich und jenes, das irgendwann irgendwo im Westen zurückblieb. Nein, ich habe nicht das Gefühl, dass ich durch meine Auswanderung etwas verloren habe. Ich würde vielmehr sagen, ich habe etwas Unschätzbares dazugewonnen: eine multikulturelle Perspektive. Deshalb finde ich es umso bedauerlicher, dass die beiden Nachbarländer sich so wenig füreinander interessieren. Dabei könnten sie so viel voneinander lernen!“PS: 2019 wanderten 270 000 Deutsche ins Ausland aus. Im selben Jahr kamen über 1,5 Millionen Einwanderer nach Deutschland.Karin Haß hat mehrere Bücher über ihr Leben in Sibirien geschrieben; Informationen und Hinweise findet ihr auf der Website https://taigaleben.de/Falls ihr euch mit dem Gedanken tragt, nach Marokko auszuwandern, bietet euch Didier Schmallongs Blog viele wertvolle Hinweise. Ihr könnt auch Kontakt mit dem Autor selbst aufnehmen: http://marokkoauswanderer.blogspot.com/Auf der Website von Katharina und Johanna könnt ihr nicht nur die Schlittenhunde von 8SeasonsHuskies unterstützen, sondern findet auch einige exklusive Angebote: https://www.8seasonshuskies.com/Erdmute und Wacław Sobaszek könnt ihr im Dorftheater Węgajty besuchen. Weitere Informationen findet ihr auf der Website: https://teatrwegajty.eu/AUTORIN: Joanna Strzałko studierte Skandinavistik an der Jagiellonen-Universität Krakau. Anschließend studierte sie an der Polnischen Reportageschule in Warschau. Sie ist als Reporterin und Übersetzerin tätig und arbeitet unter anderem mit der Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ und deren Reportagemagazin „Duży Format“ sowie mit der Fachzeitschrift „Charaktery“ und dem Wochenblatt „Tygodnik Powszechny“ zusammen. Ihre Artikel erschienen auch in der Frauenzeitschrift „Twój Styl“, dem Magazin „Newsweek Historia“ und der Zeitschrift „Polityka“. Sie war Stipendiatin der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und Finalistin des Deutsch-Polnischen Tadeusz-Mazowiecki-Journalistenpreises 2019. Sie lebt in Deutschland.Übersetzung: Heinz RosenauCopyright: Goethe-Institut Polen