„Dreierlei Zauberbrei“ und die Kunst des Flanierens
Im Rahmen des Internationalen Festivals junger Literatur „Wortspiele“ in München und mit Unterstützung des Goethe-Instituts China absolvierte die Schriftstellerin Alexandra Riedel im September 2023 einen Kurzzeitaufenthalt in Peking. Ein Interview des Goethe-Instituts China mit Riedel über ihre Erfahrungen und Beobachtungen in der chinesischen Metropole, und auch dazu, was sie gerne aus Peking in Deutschland übernimmt.
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Was hat dich dazu motiviert, an einem Residenzprogramm in China teilzunehmen?
Bis zu diesem Zeitpunkt war ich nie allzu weit gereist, aber mir gefiel die Idee, in etwas Neues, Unbekanntes einzutauchen, mich und meinen Umgang damit zu beobachten, zu erkunden, wie es sich anfühlt, im Alleingang und mit absolut fehlenden Sprachkenntnissen Peking und seinen Menschen zu begegnen.
Was war dein erstaunlichstes Erlebnis in Peking?
Es fällt mir schwer nach dem EINEN, DEM erstaunlichsten Erlebnis zu fahnden. Jeder Moment war gewissermaßen ein Erlebnis und sei er auch noch so kurz gewesen. Ein kleiner Augenblick, in dem etwa eine Frau inmitten des tosenden Verkehrs realisierte, dass sie in nur wenigen Minuten gelernt hatte, Fahrrad zu fahren. Oder mit welcher Ruhe ein älterer Mann versuchte, seinen Drachen aus den Fängen eines Baumes zu befreien, die Schnur schließlich riss und sich am anderen Ende des Parks ein Kind an eben jenem Drachen erfreute. Wie ruhig und friedlich eine kleine Gasse des Nachts war, durch die sich nur wenige Stunden zuvor noch 100te Menschen schoben. Eine riesige Kaninchenskulptur eingetaucht in Nebel, silberglänzende Rentiere und ein zähnefletschendes Wolfsrudel – alle versammelt vor etwas, das vielleicht ein Shoppingcenter war. Überhaupt so manches Mal nicht zu wissen, vor welchem Gebäude ich da genau stand und es bestaunte ob seiner Größe, seiner Form, seiner blinkenden Lichter. Keiner Menschenseele in einem riesigen Park im Nordosten der Stadt zu begegnen. Das erste Mal ein Rad zu leihen und damit quer durch die Stadt zu fahren. Sich in eine Schlange einzureihen, ohne zu wissen, wohin sie führte, derweilen 4-mal meinen Ausweis vorzuzeigen, zusätzlich meine Handynummer anzugeben und dabei zu schmunzeln, weil das digitale System gar keinen Platz bereit hielt für so viele Ziffern. Die Tatsache, dass mir vom Wachpersonal kaum Zeit gegeben wurde, ein Foto vom Tian’anmen Platz zu machen, was mich trotz meines Wissens um diesen Platz dennoch irgendwie erstaunte. Die Eleganz der Frauen und der nicht selten große Kontrast zu ihren männlichen Begleitern. Die gemeinschaftlichen Aktivitäten nach Sonnenuntergang, das Tanzen, Singen, Sporttreiben oder Go spielen. Der irgendwie friedlich anmutende Lärm dieses bunten Treibens.
Welche ist deine chinesische Lieblingsspeise? Warum?
Mit dem Essen habe ich es einfach gehalten und bin nahezu täglich in denselben kleinen Imbiss in meinem Wohnviertel gegangen – nicht zuletzt auch deshalb, weil meine Übersetzungsapp mir teilweise recht kryptische Ergebnisse lieferte und ich nicht mutig genug war, um zu erkunden, was etwa ein „dreierlei Zauberbrei“ für mich bereithalten könnte. In Begleitung mit chinesischen Muttersprachlerinnen wie Jiang Ningxin kam ich weitaus leichter in den Genuss köstlicher Fischspeisen, interessanter Gemüsebeilagen und Dumplings aller Art. In Gesellschaft isst es sich außerdem sowieso besser und die chinesischen Gerichte sind oftmals auch genau darauf ausgelegt. Das gefällt mir grundsätzlich.
Welcher Moment während deines Aufenthalts in China hat dich bei deiner Arbeit als Schriftstellerin besonders inspiriert/fasziniert?
Auch hier ist es weniger EIN Moment als vielmehr die Erfahrungen in ihrer Gesamtheit, darunter auch diejenige, selten unbemerkt zu bleiben, herauszustechen aus der Menge als jemand Unbekanntes und nichtsdestotrotz Teil eines Ganzen zu sein.
Etwas, das mich außerdem faszinierte und weiterhin beschäftigt, ist die Tatsache, dass die chinesische Sprache so vollkommen anders funktioniert als etwa die indogermanischen Sprachen. Wie ich schon ziemlich bald bemerkte, ist es fast nutzlos, nur einzelne Wörter zu verwenden, um weiterzukommen. In den meisten Fällen sind es erst die Beziehungen der Wörter zueinander, die ihren Sinn erzeugen. Dies ist mir in besonderem Maße im Rahmen des Übersetzungsworkshop an der Universität Peking klar geworden. Huang Chaoran, Assistenzprofessorin der deutschen Abteilung der Peking University of Foreign Studies, hatte zusammen mit mehreren Studentinnen einen Teil meines Romans übersetzt. Die übersetzungstechnischen und nicht immer leicht zu beantwortenden Fragen, die sich aus ihrer Arbeit ergaben, aber auch den eigenen Text schlussendlich auf Chinesisch zu hören, zählen übrigens ebenfalls den vielen erstaunlichen Erlebnissen während meines Aufenthalts in Peking.
Welchen Ort in Peking würdest du deinem*r Nachfolger*in unbedingt empfehlen?
Auf der Großen Mauer von Mutianyu gewesen zu sein, war zweifelsohne ein weiteres Erlebnis, das ich keines Falls missen möchte, aber auch der Sommerpalast und dessen Seenlandschaft oder der Himmelstempel haben mir beinahe die Sprache verschlagen. Mit dem Rad den Qinghe River entlangzufahren, über den Universitätscampus zu schlendern, im Ritan Park zu sitzen und ein Buch zu lesen, vom Höchsten Punkt des Jingshan Parks, dem Meishan, über die Stadt zu schauen oder sich einfach durch die Straßen und Gassen treiben zu lassen, die Stadt zu Fuß zu erkunden, all das möchte ich unbedingt empfehlen.
Inwieweit hat das Residenzprogramm deine Vorstellung von Peking verändert?
Peking ist voller grünen Oasen, die wie aus dem Nichts und immer zur rechten Zeit aufzutauchen scheinen. Insofern gab es weitaus mehr Momente als angenommen, in denen sich die Größe und Bevölkerungsdichte der Stadt relativierten und ganz plötzlich Ruhe und Entspannung einkehrten.
Etwas, das ebenfalls nicht meiner Vorstellung von Peking entsprach, war, so selten mit Menschen auf der Straße in Kontakt zu kommen. Dies ist vorderhand sicherlich der Sprachbarriere geschuldet, vielleicht auch einer gewissen Reserviertheit oder einer Prise Skepsis gegenüber dieser Person, nämlich mir, die sich mit offenem bis neugierigen Blick auch abseits der touristischen Pfade bewegte. Die tatsächlichen Gründe, von denen es zweifelsohne mehrere gibt, blieben mir meist hinter Gesichtsausdrücken verborgen, die ich einfach nicht zu lesen verstand – eine Tatsache, die mich ebenfalls über die Maße faszinierte, weil ich mich sonst eigentlich recht gut darin verstehe. So dachte ich jedenfalls bisher.
Welche Gewohnheit oder Idee aus Peking würdest du gerne in Deutschland übernehmen?
Eindeutig die Kunst des Flanierens. Nie wäre ich davon ausgegangen, dass das Lauftempo, das ich aus Berlin mitbrachte, in etwa doppelt so schnell sein würde, wie das der Menschen in Peking. Entschleunigung zu lernen in einer der zehntgrößten Städte der Welt: Das ist schon was.
Auch habe ich den Eindruck gewonnen, dass Vereinzelung, Ignoranz und eine gewisse Form der Verrohung, wie ich sie aus Berlin kenne, in Peking weniger Platz haben. Die Stadt und ihre Menschen scheinen stärker oder wenigstens auf andere Weise miteinander verbunden zu sein. Als würden sie gegenseitig aufeinander Acht geben. Die Stadt auf ihre Menschen, – ja gewiss – , aber auch die Menschen auf ihre Stadt. Denn Plakate allein – also etwa diejenigen, die Ratschläge für eine bessere Gemeinschaft geben –, erzeugen noch kein Gemeinschaftsgefühl. Hierfür bedarf es, so denke ich jedenfalls, einer Form der Achtsamkeit und Bereitschaft, die über das reine Befolgen hinausgeht.
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Über die Schriftstellerin
Alexandra Riedel, geboren 1980 in Süddeutschland und aufgewachsen in Norddeutschland, studierte Kunstgeschichte und neuere deutsche Literatur an der Humboldt Universität Berlin. Danach folgte ein Masterstudium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2014 war sie unter den Finalisten*innen beim 22. Open Mike. Veröffentlichungen in: „Object is Meditation and Poetry“, Grassi Museum für Angewandte Kunst (2017) und „Tippgemeinschaft“ (2016, 2015). Für ihren Debütroman „Sonne, Mond, Zinn“ wurde sie mit dem Bayern 2-Wortspiele-Preis 2020 ausgezeichnet. Sie lebt in Berlin.
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