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宽特丨在尊严与多元主义之间:黑格尔哲学在当今世界的意义与限度(德文讲稿)

宽特 伦理学术 2024-04-22





编者按


本期推送米夏埃尔·宽特(Michael Quanta)教授的讲座德文讲稿。


黑格尔与现代世界”(Hegel und die moderne Welt)——国际著名黑格尔专家系列讲座,宽特教授将作为主讲人,于9月29日(本周四)18:30(北京时间)作题为“Zwischen Würde und Pluralismus: Aktualität und Grenzen der Hegelschen Philosophie heute ”(在尊严与多元主义之间:黑格尔哲学在当今世界的意义与限度)的学术报告,敬请关注、期待!




特(Michael Quanta):德国明斯特大学副校长、实践哲学讲席教授,《黑格尔研究》和《黑格尔研究附刊》主编,国际马克思恩格斯基金会(IMES)主席,欧洲科学院、柏林—勃兰登堡科学院、北莱茵—威斯特法伦科学艺术院院士,明斯特大学生命伦理中心负责人。曾任德国哲学学会主席(2012—2014)。



有自由的灵魂才能在自由的现代世界活出人性的尊严,对人如此,对国亦然。但这一康德伦理学的主题,能在固有的黑格尔所理解的世界框架内证成吗?最早发现“承认”作为黑格尔哲学主题从而开辟出黑格尔研究新局面的路德维希·西普教授至少会说,只有对黑格尔的论证所依据的基本前提提出质疑才有可能。想要认真对待黑格尔的人,就不能仅仅满足于将其归类到某个哲学范式,而必须走进黑格尔的体系批判,将其逻辑的与历史的双重视角的冲突与矛盾在当下的问题意识中予以批判地考察。

宽特教授这一演讲的视野不在历史的兴趣,而是一个现实的主题,即黑格尔的实践哲学如何能够证成在德国当代生命医学伦理学中被强烈感受到的人类尊严难题,一种黑格尔式的现代方案将如何处理尊严的普遍原则与多元主义的规范观念之间的张力,因而这是检验黑格尔哲学在当代世界中的意义与限度的思考。






《伦理学术11——美德伦理的重新定位》

2021年秋季号总第011卷

邓安庆 主编

上海教育出版社丨2021年12月 





在尊严与多元主义之间:

黑格尔哲学在当今世界的意义与限度

Zwischen Würde und Pluralismus: 

Aktualität und Grenzen der Hegelschen Philosophie heute




宽特(Michael Quanta)/

▲ 本文作者:米夏埃尔·宽特(Michael Quanta)教授



Die Auslegung solcher Implikationen der Hegelschen Philosophie der Natur und des Geistes bewegt sich auf einem schmalen Grat. Nicht alles kann im Rahmen einer immanenten HegelInterpretation gerechtfertigt werden. Darüber hinaus muss eine solche Extrapolation auch grundlegende Prämissen in Zweifel ziehen, auf denen Argumente Hegels beruhen. 


——Ludwig Siep




Eine Vorüberlegung

Manche Philosophen forschen in verschiedenen Teildisziplinen wie zum Beispiel Metaphysik und Sprachphilosophie. Andere arbeiten zu mehr als einem historischen Autoren; einige kombinieren dies möglicherweise mit Schwerpunkten in den Teildisziplinen, also beispielsweise zur Erkenntnistheorie von Kant und Hume. Wieder andere beschäftigen sich mit Autoren aus verschiedenen philosophischen Paradigmen: am prominentesten sind derzeit vermutlich immer noch die kontinentale und die analytische Philosophie. Schließlich lassen sich diese drei Weisen der Unterscheidung auch miteinander kombinieren. Es ist also zwar nicht häufig aber doch möglich, dass man auf Philosophen trifft, deren Arbeiten zu verschiedenen Autoren, Teildisziplinen und philosophischen Paradigmen gehören. Dies wirft, für die Rezipienten, aber durchaus auch für den jeweiligen Autor selbst, die Frage auf, ob und gegebenenfalls wie seine Arbeitsbereiche und Themenfelder sachlich zusammen hängen. Wenn in einer wissenschaftlichen Kultur eine strikte Trennung zwischen historisch und systematisch ausgerichteter Forschung in der Philosophie etabliert ist, kann es durchaus sein, dass die beiden Arbeitsbereiche sich selbst in der Person ihres Autors nicht berühren. Denkbar ist sogar der Fall, dass ein Philosoph zwei Interessensgebiete hat, die für ihn disjunkt bleiben. Seine Beiträge in dem einen Bereich berühren sich dann nicht mit denen zu einem anderen Bereich. 


Umgekehrt ist es möglich, dass eine Philosophin zwischen ihren Themen und Arbeitsfeldern systematische Beziehungen sieht und diesen in ihrer eigenen Forschung auch nachgeht. Überschreitet sie dabei die Grenzen der philosophischen Teildisziplinen, der philosophischen Paradigmen oder wandelt zwischen der historischen und der systematischen Perspektive auf Sachprobleme und Autoren der Philosophiegeschichte hin und her, dann wird die Rezeption ihrer Beiträge kompliziert: Die Rezeptionsgewohnheiten ihrer Leser werden irritiert. Das kann Ablehnung und Faszination gleichermaßen auslösen, kann als Verwässerung von  Differenzierungen und als Erweiterung der Perspektive eingeschätzt werden.


Wenn man zur Philosophie Hegels arbeitet und dabei deren eigenen Ansprüchen gerecht werden will, kann man erstens die strikte Trennung zwischen einer historischen und einer systematischen Perspektive nicht aufrecht erhalten. Dies gilt nicht nur, weil Autoren wie Kant, Fichte oder Hegel für sich beanspruchen, systematische Beiträge zu systematischen Fragen der Philosophie beizutragen, sodass eine rein historische Beschäftigung den genuinen Anspruch dieser Autoren bzw. ihrer Werke verfehlen muss. Es gilt insbesondere für die Philosophie Hegels, weil in ihr die historische und die philosophiegeschichtliche Dimension einen konstitutiven Beitrag zur Lösung der systematischen Probleme leisten. 


Außerdem kann man dann zweitens die in der gegenwärtigen Philosophie wirkmächtige Vorstellung einer arbeitsteilig verfassten Bearbeitung von Teildisziplinen und isolierten Problemen nicht teilen: Aus einer Hegelschen Perspektive hängen die systematischen Fragen in der Philosophie unauflöslich zusammen. Man kann und muss die Probleme identifizieren und die Teildisziplinen unterscheiden, um sie dann in einem zweiten Schritt gerade aufeinander beziehen zu können. Gegenwärtig prominente Schlagworte wie Holismus, Kohärentismus oder Überlegungsgleichgewicht zielen auf diesen sachlichen Zusammenhang der Philosophie, den Hegel mit seiner Dialektik und seiner Systematik zu erfassen versucht hat. 


Nun könnte man zu der Ansicht gelangen, dass im Falle eines Philosophen, der sich systematisch mit Hegel beschäftigt, nur die Trennung zwischen philosophischen Paradigmen stabil gehalten werden kann. Doch auch dies erweist sich mit Blick auf Hegels systematischen Anspruch als problematisch: Immerhin beansprucht Hegel mit seiner philosophischen Methode, alle berechtigten Aspekte des Philosophierens zu integrieren; und sein System erhebt den Anspruch, alle bewahrenswerten philosophischen Erkenntnisse an dem ihnen zukommenden Platz aufzuheben. Wer Hegel ernst nehmen will, kann sich nicht einfach mit der Einordnung in ein philosophisches Paradigma begnügen; wer ihn nicht einfach nur ignorieren möchte, muss sich zu Hegels systematischen Kritiken verhalten.




Das Thema dieses Beitrags

Wer meinem Gedankengang bis zu diesem Punkt gefolgt ist, den wird die Frage, die ich in diesem Beitrag behandeln möchte, nicht überraschen: Wie verhält sich die Position, die in meinem Buch „Menschenwürde und personale Autonomie. Demokratische Werte im Kontext der Lebenswissenschaften“ skizziert wird, zur praktischen Philosophie Hegels? Sie könnte für manchen Leser, den meine Arbeiten zu Hegel und zur biomedizinischen Ethik gefunden haben, interessant sein. Für ihren Autor muss sie aus den Gründen, die ich eingangs angedeutet habe, sogar unmittelbar relevant sein.


Dabei werde ich mich im Folgenden auf die Frage konzentrieren, wie Hegels praktische Philosophie sich zu der in der (deutschen) biomedizinischen Ethik stark spürbaren Spannung zwischen Menschenwürde als einem universalen Prinzip und der normativen Vorstellung des Pluralismus verhält. Damit soll nicht bestritten werden, dass Hegels Konzeption des objektiven Geistes auch in Bezug auf die gegenwärtig wieder intensiv diskutierten Fragen nach sozialer Gerechtigkeit oder der Rolle des Marktes eine systematisch bedeutsame Bezugsgröße darstellt. Ich werde in diesem Beitrag auch nicht auf die Frage eingehen, wie sich Hegels Philosophieren zu der gegenwärtig in vielen Bereichen dominanten analytischen oder auch postanalytischen Philosophie verhält. Diese beiden Auslassungen dienen ausschließlich dazu, das überaus vielschichtige Thema soweit zu vereinfachen, dass es in einem einzelnen Beitrag behandelbar wird. Wie sich gleich zeigen wird, bleibt es auch nach dieser Ausblendung immer noch komplex. 


Konzentriert man sich auf die Frage, wie Hegels praktische Philosophie sich zu der in der (deutschen) biomedizinischen Ethik stark spürbaren Spannung zwischen Menschenwürde als einem universalen Prinzip und der normativen Vorstellung des Pluralismus verhält, dann kann man auf zwei verschiedene Weisen vorgehen. Die erste Strategie bestünde darin herauszuarbeiten, welche Auflösung der Spannung zwischen Menschenwürde und Pluralismus auf der Grundlage der praktischen Philosophie Hegels als philosophisch angemessen zu gelten hätte. Wenn dies nicht lediglich als philosophische Fingerübung durchgeführt wird, kann man mit dieser Strategie jedoch nur dann systematische Begründungsansprüche erheben, wenn man sich dabei — implizit oder explizit — auf die Begründungsleistungen der Hegelschen Philosophie stützt und ihre Beweislasten mitträgt. Getreu der Maxime, dass Hegel im Grunde philosophisch alles richtig gemacht und alle relevanten Begründungen geliefert habe, hätte man so eine Ausgangsbasis für die heutige systematische Arbeit. Diese Grundhaltung, die sicher bei den meisten der unmittelbaren Hegelschüler, die man nicht der Hegelschen Linken zurechnen kann, häufig zu finden war, hat auch heute noch ihre Vertreter, Sie liegt aber meinen Überlegungen nicht zugrunde.


Eine zweite Strategie, die ich im Folgenden anwenden werde, entwickelt eine eigene systematische Antwort darauf, wie die Spannung zwischen Menschenwürde und Pluralismus im Bereich der biomedizinischen Ethik zu explizieren und in ein vernünftiges Verhältnis zu bringen ist. Hat man diese philosophische Hausaufgabe erledigt, kann man sich fragen, ob der eigene Ansatz mit der praktischen Philosophie Hegels kompatibel ist. Dies könnte schon deshalb der Fall sein, weil Hegel selbst zu den verhandelten Problemen, man denke etwa an spezifische ethische Fragen in den modernen Lebenswissenschaften, nichts sagt. Oder auch deshalb, weil seine praktische Philosophie auf dieser konkreten Anwendungsebene keine spezifischen Implikationen enthält. Man kann noch einen Schritt weiter gehen und sich fragen, inwieweit Hegels praktische Philosophie bei der Ausarbeitung einer systematisch tragfähigen biomedizinischen Ethik hilfreich ist. Oder aber umgekehrt: Wo sie einer solchen gerade im Wege steht. Wenn man Strukturmerkmale der Hegelschen Philosophie identifiziert hat, von denen man annimmt, dass sie einer heute akzeptablen biomedizinischen Ethik im Wege stehen, dann ist man mit einer doppelten Anschlussfrage konfrontiert: Zu klären ist, welche Konsequenzen aus dieser ermittelten Unverträglichkeit für die biomedizinische Ethik einerseits und für den heutigen Umgang mit der Philosophie Hegels andererseits zu ziehen sind.


Beide soeben skizzierten Strategien werfen allerdings ein nicht unerhebliches Problem auf, da sie — zumindest implizit — voraussetzen müssen, dass wir über die richtige Interpretation der praktischen Philosophie Hegels, und das bedeutet in seinem speziellen Falle aufgrund ihres Systemcharakters, dass wir über die richtige Interpretation seiner Gesamtphilosophie verfügen. Die zweihundertjährige philosophische Forschung zu Hegels Werk sollte jeden Interpreten an dieser Stelle zur Vorsicht gemahnen, denn es ist nicht zu übersehen, dass radikal divergierende Deutungen die Hegelsche Philosophie von Anbeginn an begleitet haben. Es erscheint mir daher ratsam, die mit diesem Befund verbundene Schwierigkeit zumindest ein wenig abzumildern, indem ich eine alternative Position zu meinen eigenen Überlegungen ins Verhältnis setze: Ludwig Siep hat sich in seinen neueren Publikationen zu Hegel Fragen vorgelegt, die mit denen, um die es in diesem Beitrag gehen soll, nahe verwandt sind. Er verfolgt dabei, wenn ich richtig sehe, ebenfalls die zweite Strategie. Es wird daher lohnend und klärend sein, seine Befunde darzustellen, denn so kann ich die Gemeinsamkeiten zwischen Sieps und meiner eigenen Bestandsaufnahme identifizieren. 


Damit liegt das weitere Vorgehen für diesen Beitrag fest: Im ersten Schritt werde ich eine knappe Skizze der essentiellen Merkmale meiner eigenen Konzeption aus „Menschenwürde und personale Autonomie“ entwerfen, in der ich die Spannung zwischen Würde und Pluralismus betone. Dabei werde ich auch entwickeln, wie sich meinem Verständnis nach Würde und Pluralismus in Hegels praktischer Philosophie verorten lassen (I.). Anschließend folgt im zweiten Schritt die Darstellung der aktuellen Position von Ludwig Siep (II.), bevor ich abschließend eine knappe Bilanz meiner Überlegungen ziehe (III.).





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Die Grundidee, der ich in „Menschenwürde und personale Autonomie“ Gestalt geben wollte, besteht darin, das Prinzip der Menschenwürde so zu interpretieren, dass es unter den Bedingungen einer faktisch weitgehend säkularen und pluralen Gesellschaft, in der das Prinzip des Respekts vor personaler Autonomie faktisch zunehmend anerkannt und institutionell verankert wird, weiterhin als zentraler Bestandteil einer akzeptablen biomedizinischen Ethik fungieren kann. Im Hintergrund steht, als weitere deskriptive Prämisse, die Annahme, dass alle Versuche, diese faktischen Rahmenbedingungen der Säkularität, der Pluralität und der besonderen Stellung der Autonomie zurückzudrängen, weder politisch sinnvoll noch ethisch akzeptabel sein können. Darüber hinaus, dies sind zwei evaluative Prämissen meiner gesamten Überlegungen, stellt Pluralität selbst eine ethisch positiv zu bewertende Entwicklung dar (diese Annahme nenne ich dann Pluralismus). Und personale Autonomie ist, wenn sie nicht zu einer rein individuellen Dezision degradiert oder zu einem von der Persönlichkeit der Menschen abgetrennten universalen Prinzip DES Menschen hypostasiert wird, ein zentrales Element meiner eigenen Konzeption des guten und gelingenden Lebens.


Bezieht man personale Autonomie auf eine Konzeption der personalen Lebensform, in welcher die Leiblichkeit und die Sozialität des Menschen eine konstitutive Dimension einnehmen, dann hat man ein dichtes ethisches Prinzip vor sich, das unterschiedliche Aspekte der menschlichen Existenz zu integrieren erlaubt.Meine Vermutung, der ich in weiteren Arbeiten nachgehen werde, ist, dass sich mit der auf die menschliche Lebensform bezogenen Konzeptionen der Personalität sowie der personalen Autonomie und Verantwortung eine integrative praktische Philosophie entwickeln lässt, die den Erfordernissen unserer modernen Gesellschaft gerecht werden kann.


Eine solche praktische Philosophie sollte, dies deute ich in „Menschenwürde und personale Autonomie“ lediglich an, die Säkularität und die Pluralität unserer Gesellschaft auch in ihrer Theoriestruktur einfangen. Konkret bedeutet dies in meinen Augen, dass eine solche praktische Philosophie konsequent fallibilistisch aufgebaut ist, mit dichten ethischen Begriffen operiert, die Kontextualität und Situationsgebundenheit ethischer Urteile beachtet und der Komplexität auf der metaethischen Ebene durch einen Pluralismus von Werten und Normen Ausdruck verleiht.


Die praktische Philosophie „sollte“ in meinen Augen so aufgebaut sein, weil sie dann in ihrem Theorieaufbau die Verfasstheit unserer Gesellschaft angemessen abbildet. Dies kann man sich durch folgende Überlegung verdeutlichen: Die eine Variante ist eine Ethik, deren alternatives Theoriedesign eine lexikalische Vorordnung eines Prinzips (einer Norm oder eines Werts) annimmt, das alle anderen prima facie berechtigten Ansprüche übertrumpft. Auf dieser Grundlage werden Abwägungen unmöglich und die spezifischen Konstellationen konkreter Situationen kommen nicht mehr in den Blick. Unter der Bedingung, dass es in der Gesellschaft keinen geteilten Konsens hinsichtlich der zu verhandelnden Frage (z.B. die Regelung der Sterbehilfe) gibt, führt eine solche Ethik dann in das Dilemma einer starren Opposition, die keine Vermittlungen mehr zulässt. Dies ist weder in ethischer Hinsicht plausibel noch in gesellschaftlich-politischer Hinsicht wünschenswert. Die andere Variante ist eine Ethik, die ein komplexes Prinzip annimmt, in welchem alle anderen prima facie berechtigten Ansprüche miteinander verrechnet werden. Ein solches Modell von Ethik löst die gesellschaftliche Pluralität innerhalb der ethischen Urteilsbildung auf; das so gewonnene ethische Urteil steht dann der gesellschaftlichen Pluralität unvermittelt als homogener Block gegenüber. In der Konsequenz müssen die politischen Vermittlungsprozesse aus Sicht einer solchen philosophischen Ethik als ein externer Schritt der Implementierung oder Durchsetzung des zuvor unabhängig ermittelten ethischen Urteils gelten. Damit geht aber nicht nur eine starre und in der Sache wenig plausible Dichotomie von Ethik und Politik einher. Wesentlich gravierender ist es, dass sich in einer solchen Ethik die normativen Gehalte des politischen Diskurses, in dem die Pluralität als irreduzibel anerkannt und diesem Faktum Rechnung getragen wird, gar nicht mehr explizieren und integrieren lassen.


Wenn man also der Pluralität unter dem Primat personaler Autonomie Genüge tun will, muss man zum einen darauf verzichten, diese Werte und Normen in ein starres System hierarchischer Vorrangregeln einzufügen. Zum anderen muss man der Versuchung widerstehen, das Bestreben nach Verallgemeinerung in Form einer ahistorischen und entkontextualisierten Universalität umzusetzen.Die Alternative, so das von mir anvisierte Gegenbild, besteht in einer Pluralität von Kontexten, evaluativen Merkmalen, Werten und Normen, die in konkreten Situationen durch die Urteilskraft der beteiligten Akteure und in generalisierten Kontexten durch behutsam universalisierende Normen einer ethischen Bewertung zugeführt werden können.


Akzeptiert man die Pluralität unter der metaethischen Prämisse eines prinzipiellen Fallibilismus und der ethischen Prämisse des Respekts vor personaler Autonomie, dann wird man zugestehen müssen, dass es zentrale individuelle Freiheitsrechte gibt, deren Inanspruchnahme zwar rationalen Begründungsstandards genügen muss, die im Konfliktfall aber nicht mehr durch eine leistungsstarke Ethik sondern nur noch mittels politischer Verfahren und unter Ausbildung passender, diese Aushandlungsprozesse stabilisierender Institutionen gelöst werden können.


Dies sind die Rahmenbedingungen, denen auch eine heute angemessene Explikation des Prinzips der Menschenwürde genügen muss. Sie darf, das ist eine unmittelbare Konsequenz der soeben geschilderten Vorgaben, nicht mit der personalen Autonomie unvereinbar sein. Und sie muss sich so interpretieren lassen, dass sie die spezifischen ethischen Anforderungen der jeweiligen Handlungskontexte und der in ihnen verorteten Werte und Normen zur Geltung kommen lässt. Schließlich darf zur Begründung der Menschenwürde nur herangezogen werden, was seinerseits berechtigter Weise den Anspruch erheben kann, zum Bestand des in einer pluralen und säkularen Gesellschaft vernünftigerweise zu unterstellenden überlappenden Konsenses zu gehören.


Ein solches Theorieprogramm kann an einige zentrale Aspekte der praktischen Philosophie Hegels konstruktiv anschließen. Da wäre zuerst einmal die Tatsache zu nennen, dass Hegel die Würde des Menschen an das Selbstbewusstsein und die intersubjektiv-rationale Verfasstheit seines Denkens und Wollens bindet. Es ist nicht das Menschsein als solches, sondern diese spezifische Form der menschlichen Vernunft, die der normativen Geltung der Menschenwürde zugrunde gelegt wird. Selbstverständlich ergeben sich damit exkludierende Effekte mit Bezug auf menschliche Individuen, die noch nicht, nicht mehr oder zu keinem Zeitpunkt ihrer Existenz in der Lage sind, diese Fähigkeit auszuüben. Auf der anderen Seite ist durch diese Prämisse garantiert, dass Menschenwürde und personale Autonomie nicht in ein antagonistisches Verhältnis geraten können. Noch die inhaltlich unvernünftigste Äußerung des Willens ist Ausdruck seiner Rationalität und Würde. Sie verdient deshalb, ernst genommen zu werden. Damit ist, und dies kann man in Hegels praktischer Philosophie ebenfalls sehen, keinem Dezisionismus das Wort geredet, denn auch Kritik oder gar Strafe sind Weisen, die Autonomie einer Person zu respektieren. Wie kein anderer seiner unmittelbaren Vorgänger hat Hegel die konstitutiv soziale Verfasstheit der menschlichen Personalität herausgearbeitet. Damit kann er eine intern komplexe Antwort auf das Verhältnis von individueller und intersubjektiver Dimension von Rationalität und Autonomie entwickeln. Es gibt also unbestreitbar identifizierbare Konzeptionen in der praktischen Philosophie Hegels, an die eine moderne biomedizinische Ethik konstruktiv anschließen kann. 


Hegel entwickelt seine Konzeption der praktischen Philosophie auf der Grundlage des Selbstbewusstseins, welches im Systemteil des objektiven Geistes als Lokalprinzip des Willens entfaltet wird. Dieser Wille ist, wie der objektive Geist insgesamt, nur auf der Basis des subjektiven Geistes philosophisch adäquat zu bestimmen. Damit kommen die Leiblichkeit und die Sozialität in Form einer grundlegenden Dependenz des menschlichen Individuums als grundlegende Aspekte der menschlichen Lebensform in den Blick. Sie gehören Hegel zufolge konstitutiv zu den Bedingungen menschlicher Personalität und Autonomie, sodass Hegel seine praktische Philosophie nicht nur auf das deontologische Prinzip der Würde, sondern zugleich auf die axiologischen Aspekte des guten und gelingenden Lebens ausrichten kann, die er unter dem Gesichtspunkt des Wohls in seiner Rechtsphilosophie entfaltet. Beides, Autonomie und Wohl, sind für Menschen nur in sozialen Gemeinschaften, nur im Rahmen vernünftiger Institutionen zu realisieren und einigermaßen dauerhaft zu gewährleisten. Deshalb ist Hegel in der Lage, die in gegenwärtigen Ethiktypen häufig reduzierte Komplexität des Evaluativen adäquat zu erfassen, ohne sie zu reduzieren oder interne Spannungen und Konflikte durch rigide Vorrangregeln zu eliminieren. Statt dessen unterscheidet er verschiedene Sphären von berechtigten Ansprüchen, identifiziert die in ihnen konstitutiven Regionalprinzipien und bringt dieses ausdifferenzierte System von Kontexten in einen philosophisch explizierten Gesamtrahmen, der uns dessen interne Struktur verständlich macht. Hegels praktische Philosophie ist damit einerseits ein metaethischer Pluralismus in dem doppelten Sinne, dass sie zentrale Aspekte konkurrierender Haupttypen der Ethik in sich vereint und eine Pluralität von Werten und Normen anerkennt.Andererseits stellt sie mit dem Begriff des an und für sich freien Willens ein in sich komplex strukturiertes Prinzip vor, das es philosophisch erlaubt, die Komplexität dieser sozialen Realität zu verstehen.Wenn man den Aufbau seiner Rechtsphilosophie nicht als Abfolge lexikalisch vorgeordneter Ansprüche missversteht, bei denen letztlich die Geschichte das letzte Wort hat und die Moralität der Sittlichkeit geopfert wird, sondern den objektiven Geist als eine philosophische Konzeption begreift, in der die Aspekte der praktischen Philosophie in ein kohärentes Ganzes eingefügt und die zwischen ihnen identifizierbaren begrifflichen Zusammenhänge ausgewiesen werden, lässt sich der Theorietyp, den Hegel in seiner praktischen Philosophie vorgelegt hat, als ein attraktives Modell begreifen, von dem man sich insgesamt inspirieren lassen kann.


Doch die praktische Philosophie Hegels weist, teilweise aufgrund der Gesamtanlage seines philosophischen Systems, auch Aspekte auf, die mit einer biomedizinischen Ethik des Zuschnitts, den ich in „Menschenwürde und personale Autonomie“ vor Augen hatte, nicht zu vereinbaren sind.Hält man an den von mir genannten Adäquatheitsbedingungen und Prämissen fest, wird man eine solche biomedizinische Ethik nicht schlicht als Anwendungsfall von Hegels Konzeption des objektiven Geistes betreiben können. Damit möchte ich zur Darstellung der Antwort auf die Leitfrage dieses Beitrags übergehen, die Ludwig Siep in den letzten zwei Jahrzehnten vorgelegt hat.





2



Der Titel der im Jahre 2010 erschienenen Aufsatzsammlung: „Aktualität und Grenzen der Praktischen Philosophie Hegels“ ist nicht nur programmatisch für Ludwig Sieps dort versammelte Forschungsbeiträge aus dem Zeitraum 1997-2009. Auch in einigen seiner in den letzten fünf Jahren entstandenen Arbeiten zur Philosophie Hegels lässt sich ein bilanzierender Blick, der Lebendes und Totes in der Philosophie Hegels zu unterscheiden anstrebt, konstatieren. Siep geht es in seiner Beschäftigung mit Hegels praktischer Philosophie „um die Prüfung der Aktualität dieser Philosophie für Probleme, vor die sich die ‚praktische‘Philosophie durch Entwicklungen der modernen Welt gestellt sieht“.


Bei dieser kritischen Bestandsaufnahme lassen sich zwei Themenfelder und zwei Akzentsetzungen unterscheiden, wobei sich die Themenfelder partiell überlappen und die beiden Akzente nicht berührungslos nebeneinander stehen. Die beiden Themenfelder, anhand derer Ludwig Siep nach der Aktualität und den Grenzen der Philosophie Hegels fragt, sind die Bioethik auf der einen und das Problem der sozialen Gerechtigkeit, insbesondere der Institution des Marktes, auf der anderen Seite. Da es mir in diesem Beitrag ausschließlich um eine Verhältnisbestimmung zwischen Hegels praktischer Philosophie und der von mir in „Menschenwürde und personale Autonomie“ entwickelten Konzeption einer biomedizinischen Ethik geht, blende ich diesen zweiten Aspekt im Folgenden aus.Die beiden Akzente, die Ludwig Siep in seiner Diskussion setzt, sind Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie einerseits und Hegels Konzeption des Staates als irdisches Absolutes andererseits. Beide sind für meine Frage nach dem Verhältnis der praktischen Philosophie Hegels zu Menschenwürde und Pluralismus unmittelbar relevant.


Auch Ludwig Siep ist der Meinung, dass in Hegels praktischer Philosophie wesentliche Aspekte aller zentralen Ethiktypen integriert sind.Die in Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ entfaltete Konzeption des objektiven Geistes beschränkt sich ja nicht auf eine Individualethik im engeren Sinne, sondern bezieht Recht, Sittlichkeit und die institutionellen Arrangements der sozialen Welt mit ein. Damit kommt sie, so Ludwig Siep, den Anliegen der „modernen Bioethik“ in gewissem Maße entgegen; auch die Hegelsche Kritik an der Vorstellung einer Regelethik, die ihre Prinzipien auf singuläre Fälle anwendet, kann wichtige metaethische Einsichten für die gegenwärtige biomedizinische Ethik bereitstellen.


Zugleich ist diese in sich komplexe Konzeption des objektiven Geistes in ein Gesamtsystem integriert, welches in den Augen von Ludwig Siep für eine pluralistische und säkulare Bioethik nicht geeignet ist. Für die praktische Philosophie im Allgemeinen identifiziert er zwei Grenzen der Hegelschen Philosophie. So habe „Hegels Idee einer Vereinbarung ‚liberaler‘ Freiheitsrechte mit einer an der griechischen Sittlichkeit orientierten sinn- und identitätsstiftenden Rolle des Staates als ‚absoluter unbewegter Selbstzweck‘“, wie es im §258 der Hegelschen Rechtsphilosophie heißt, „in säkularen Staaten keine Zukunft mehr“. Anerkennung sei zwar gerade in pluralen modernen Kulturen weiterhin ein attraktives Prinzip, vor allem dann, wenn man es, wie Hegel, in allen sozialen Sphären verankert. Weil die Hegelsche Theorie der Anerkennung aber vor dem Hintergrund „einer weitgehend kulturell homogenen christlich-europäischen Gesellschaft“ entwickelt worden ist, konnte er noch der Meinung sein, dass sich die moderne Individualität mit einer auch religiös begründeten und durch den Staat institutionell ausgestalteten substantiellen Sittlichkeit versöhnen lässt.Die Einbettung der Gewissensfreiheit des autonomen Individuums, die nach Hegel unbedingt zu respektieren ist, in eine mit göttlichen Attributen ausgestattete staatliche Struktur und in den Kontext einer insgesamt religiösen Welt- und Selbstdeutung, die sich bei Hegel konstatieren lässt, ist für unsere moderne Gesellschaft dagegen höchst problematisch: „Pluralistische Gesellschaften und demokratische Staaten verlangen“, so Ludwig Sieps Diagnose, „andere Formen der Anerkennung“.Hegels Bestimmung des Verhältnisses von Staat, Religion und Kirche sei ambivalent, da er zwar einerseits die Trennung von Staat und Kirche fordere, zugleich aber davon ausgehe, dass eine vollständige philosophische Explikation unseres evaluativen Welt- und Selbstverständnisses ohne religiöse Annahmen nicht auskommen werde: „Für Hegel bleibt die Interdependenz der verschiedenen Kulturbereiche und ihre Abhängigkeit von den fundamentalsten Begriffen der Wirklichkeitsdeutung auch nach der Ausdifferenzierung der besonderen Bereiche erhalten.“Außerdem vertrete er bis zum Schluss die Position, dass nicht alle Religionen oder Theologien mit einem modernen, philosophisch zu legitimierenden Staat verträglich sind. Der Preis, den Hegel in Sieps Augen für diese Konzeption der Vereinigung zu zahlen hat, ist in doppeltem Sinne zu hoch: „Das Christentum, das in Staat und Gesellschaft der Moderne seine innerweltliche Verwirklichung gefunden hat, verliert seine eschatologische und transzendente Dimension. Der Staat wird jeder Instrumentalisierung durch die Religion dadurch enthoben, dass er eine sakrale Dimension erhält. Diese verhindert aber den Abwehrcharakter der Individualrechte und verleiht ihrer Dispensierung in periodischen Notfällen einen positiven Sinn.“


Die von Ludwig Siep gezogenen Grenzen von Hegels Konzeption des objektiven Geistes für eine säkulare und pluralistische Gesellschaft, die sich aus der Gesamtanlage seiner Philosophie ergeben, sind damit benannt.


Vergleicht man seine kritische Bestandsaufnahme mit den von mir herausgestellten Befunden, lässt sich ein Konsens in folgenden Punkten konstatieren: 


Für die gegenwärtigen Belange einer biomedizinischen Ethik, die Würde und Pluralismus unter dem Primat personaler Autonomie miteinander vereinen möchte, sind drei Aspekte der praktischen Philosophie Hegels attraktiv: 


(a.) die umfassende Konzeption des objektiven Geistes, welche die Verengung auf die individualethische Perspektive auflöst und die Mittel für weite Überlegungsgleichgewichte bereitstellt;


(b.)die integrative, zentrale Merkmale aller wichtigen Ethiktypen einfangende Differenziertheit und Komplexität seiner praktischen Philosophie;


(c.) die soziale Konzeption personaler Autonomie, die keine unüberbrückbare Kluft zwischen der individuellen Autonomie und der sozialen sowie institutionell verfassten Wirklichkeit unterstellt. 


Unattraktiv sind dagegen


(d.)die unvollendete Säkularisierung des Staates, die zwar eine individuelle Gewissensfreiheit als irreduzibel anerkennt, zugleich aber doch religiöse Vorstellungen als unverzichtbare Gehalte einfordert;


(e.) die mit der allgemeinen Vereinigungsidee verbundene Abschwächung individueller Freiheitsrechte und der mit ihr einhergehende Verzicht auf soziale bzw. staatliche Kontrollmechanismen; 


(f.) die auf starken teleologischen Prämissen fußende Inanspruchnahme letztbegründender Explikation, die letztlich einen Vorrang der Metaphysik vor der Politik bei Hegel zum Ausdruck bringt. 


Die ersten drei Momente können dabei helfen, vereinfachende und die ethische Dimension unterkomplex erfassende Reduktionismen in der gegenwärtigen biomedizinischen Ethik zu beheben. Sie können auch einen die normative Eigensinnigkeit sozialer Kontexte und Institutionen ignorierenden Individualismus korrigieren. Hegels praktische Philosophie ermöglicht es in vielen Kontexten der biomedizinischen Ethik, irreduzible Aspekte der Dependenz und der konstitutiven Sozialität des Menschen angemessen in den Blick zu bekommen. Die letzteren drei Momente dagegen stellen, teilweise bedingt durch die historischen Kontexte der Theoriebildung, teilweise bedingt durch das philosophische Gesamtprogramm der Philosophie Hegels, nicht überwindbare Grenzen einer Fundierung der gegenwärtigen biomedizinischen Ethik mittels Hegels Konzeption des objektiven Geistes dar, wenn diese säkular verfasst, dem Pluralismus verpflichtet und am zentralen Wert personaler Autonomie ausgerichtet wird. 




3



Hegel selbst hat seine praktische Philosophie an dem Anspruch gemessen, die eigene Gegenwart in Gedanken zu fassen. Für den Bereich des objektiven Geistes bedeutet dies auch, die Konflikte und Spannungen des Sozialen auf den Begriff zu bringen. Auch wenn Hegel zufolge der Gedanke einer Anwendung der Philosophie auf eine von ihr unabhängige Realität einer philosophischen Explikation nicht standhält, muss sich die Philosophie doch darin und daran bewähren, diese Realität zu erfassen. Eine lediglich historische Beschäftigung mit der Hegelschen Philosophie muss daher beides verfehlen: Den expliziten Anspruch Hegels und das Anliegen der Philosophie. Deshalb ist es nur konsequent, der Frage nachzugehen, wie sich Hegels (praktische) Philosophie zu unserer Gegenwart und zu unseren eigenen philosophischen Deutungsversuchen verhält. Die optimistischsten unter den Kennern der Hegelschen Philosophie sind der Überzeugung, mit ihr den Schlüssel zum Verständnis unserer modernen Welt in den Händen zu haben. Ihnen fällt dann aber auch die Aufgabe zu, die systematische Leistungsfähigkeit der Hegelschen Philosophie, insbesondere seiner spekulativen Logik, in einer nicht-zirkulären Weise einsichtig zu machen. Diese Hürde und auch die vorhin dargestellten Einwände von Ludwig Siep könnten uns diesem Optimismus gegenüber skeptisch machen; sie sollten uns auf jeden Fall aber vorsichtig werden lassen. Eine gegenwärtig vielfach zu beobachtende Strategie besteht darin, diesem Problem dadurch auszuweichen, dass man die eigenen Plausibilitäten und philosophischen Annahmen in die Hegelsche Philosophie projiziert. Derlei, von Ludwig Siep zutreffend als „unhistorische Aktualisierungen“ charakterisierte Ansätze werden weder den aktuellen Problemen der praktischen Philosophie noch der Hegelschen Konzeption des objektiven Geistes gerecht.Angesichts der modernen Welt und ihren Entwicklungen wird die praktische Philosophie, hierin ist Siep uneingeschränkt zuzustimmen, „Maßstäbe, Kriterien und Normen konzipieren müssen, um Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Leiden in der Folge dieser Entwicklungen zumindest zu mindern“. Ich schließe mich auch seiner Einschätzung an, dass Hegels Philosophie sowohl für diese Aufgabe als auch für den Versuch, unsere Wirklichkeit philosophisch zu verstehen, „Potentiale“ enthält, die es zu bewahren, teilweise vielleicht sogar allererst zu heben gilt. 


Wenn man weder den Optimismus teilt, dass Hegel alles richtig gemacht hat, noch seine Philosophie lediglich als Projektionsfläche eigener philosophischer Vorlieben verwenden will, dann muss man nicht nur die Grenzen der Hegelschen Philosophie mit Gründen ausweisen. Man wird sich auch auf diejenigen Begründungsleistungen, die Hegel aus seiner spekulativen Logik gewinnt, nicht mehr stützen dürfen. Der immer wieder gegen jeden Versuch, bestimmte Teile der Hegelschen Philosophie produktiv aufzugreifen, vorgebrachte Einwand, dass man das System auf diese Weise als Steinbruch verwende und die philosophische Begründung verliere, ist so korrekt wie folgenlos: Es kommt erstens darauf an, diese Grenzen der Hegelschen Philosophie mit Argumenten auszuweisen, die das Problembewusstsein und die  Begründungen Hegels nicht ignorieren oder unterbieten. Und zweitens muss man die von Hegel übernommenen oder entlehnten Konzeptionen dadurch bewähren, dass man mit ihnen für unsere Fragen und Probleme Lösungen entwickelt und zur Diskussion stellt.


Ludwig Siep ist meines Erachtens zuzustimmen, dass sich die Potentiale von Hegels praktischer Philosophie nicht für unsere Gegenwart fruchtbar machen lassen, „wenn man in den Grenzen seiner Philosophie verbleibt“.Ich bin sogar der Überzeugung, dass wir ein großes Potential verschenken, wenn wir diese Grenzen entweder durch anachronistische Projektionen oder einen unkritischen Optimismus gar nicht erst zur Kenntnis nehmen. Denn es könnte sein, dass in einigen dieser Grenzen der Hegelschen Philosophie und der mit ihnen verbundenen Fremdheit auch die Grenzen unseres eigenen Philosophierens aufscheinen. Vielleicht hat Hegels Philosophie als kritische Gegenfolie unseres modernen Selbst- und Weltverständnisses gerade dort eine Zukunft, wo sie im ersten und direkten Zugriff „keine Zukunft mehr“ hat. Ludwig Sieps Diagnose, dass seine „Orientierung am historischen Prozess der Verwirklichung individueller und öffentlich-gemeinschaftlicher Freiheit (…)  Hegel von allen postmodernen oder technokratischen Bewegungen der Gegenwart“ trennt, halte ich für richtig. Wir sollten dieses Trennende, so möchte ich abschließend vorschlagen, weder ignorieren noch lediglich als Grenze der Aktualität der Hegelschen Philosophie abwerten. Die sich hier auftuende Differenz lässt sich möglicherweise auch als Instrument einer praktischen Philosophie nutzen, die sich als kritische Intervention in die eigene Gegenwart begreift. Anders gewendet: Hegels Freiheit ist nicht mehr die unsere. Wer diese Differenz festhält, hat die Chance, der Frage nachzugehen, welche Aspekte der Hegelschen Konzeption des objektiven Geistes, die uns heute befremden, wir uns in transformierter Form wieder aneignen können und sollten. Auf diese Frage kann uns die Hegelsche Philosophie selbst keine Antwort geben; eine eigenständige und möglichst aufrichtige Rezeption derselben  aber ist für die Antwort eine notwendige Bedingung. 





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